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Interview mit ElternberaterinGewalt in der Erziehung – «Nur weil es alle tun, ist es nicht weniger schlimm»

Psychische Gewalt kann sich für ein Kind genauso verletzend anfühlen wie körperliche Gewalt.

Haben Sie Ihr Kind schon mal angebrüllt? Ins Zimmer verbannt? Ihm mit Liebesentzug gedroht? Damit sind Sie nicht allein. Zwei von drei Müttern und Vätern wenden in der Erziehung ihrer Kinder psychische Gewalt an, wie eine aktuelle Befragung zeigt.

Alles halb so wild, solange man das Kind nur nicht schlägt? Im Gegenteil. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie der Wingate University in North Carolina, die 150 Untersuchungen zum Thema geprüft hat. Anschreien, Schimpfen, Drohen, Beleidigen, Demütigen, Schuldzuschreibungen oder abwertende Kommentare seien eine Form der Misshandlung und ähnlich gravierend wie Vernachlässigung oder körperlicher und sexueller Missbrauch.

Dies könne zu Verhaltensauffälligkeiten, Problemen mit Gleichaltrigen und in der Schule bis hin zu Spätfolgen wie Depressionen, Aggressionen oder Suchtverhalten führen.

Viele Eltern seien sich zu wenig bewusst, wie Anschreien und abwertende Worte bei den Kindern ankommen würden, viele hätten es selber nicht anders gelernt. «Wegen der lebenslangen negativen Folgen muss verbaler Missbrauch in der Kindheit dringend als eine Unterart von Missbrauch anerkannt werden», schlussfolgert die Studienleiterin Shanta R. Dube.

Das verunsichert viele Eltern. Wie soll es im stressigen Erziehungsalltag möglich sein, ruhig und fair zu bleiben? Die Erziehungsberaterin Nina Trepp weiss Rat.

Frau Trepp, eine neue Studie kommt zum Schluss, dass es eine Form von Kindesmisshandlung sei, Kinder anzuschreien, ihnen mit Liebesentzug zu drohen oder sie niederzumachen. Ist das alles wirklich so schlimm wie körperliche Gewalt?

Ja! Wenn ein Kind immer wieder Dinge zu hören bekommt wie «Du taugst nichts» oder «Du checkst es sowieso nicht», fühlt sich das genauso verletzend an wie ein Füdlitätsch in einer Kurzschlussreaktion. Daher ist emotionale Gewalt genauso tabu wie körperliche. Wir müssen Kinder unbedingt vor beidem schützen.

Muss man da nicht differenzieren? Im Stress wird doch jeder mal laut oder unfair. Wenn das unter Kindesmissbrauch fällt, wären ja Eltern flächendeckend Kindesmissbraucher.

Nur weil es alle tun, ist es nicht weniger schlimm. Früher haben wohl fast alle Mütter oder Väter ihre Kinder geohrfeigt. Das galt als normal, aber ist keine Rechtfertigung für körperliche Gewalt. Entscheidend ist hingegen die Haltung dem Kind gegenüber. Wenn ich es normalerweise als gleichwertig behandle, also genauso mit ihm rede wie mit meiner Chefin, mit meinem Nachbarn oder dem besten Freund, und wenn dem Kind klar ist «Ich bin gut, wie ich bin, ich werde immer geliebt, egal, was ich tue», kommt es zu keiner Integritätsverletzung oder einem Trauma, bloss weil ich mal ausflippe und herumbrülle. Wenn das Umfeld stimmt, weiss das Kind, dass es nichts mit ihm zu tun hat.

Und soll das Kind denn realisieren, dass das Rumgeschreie nichts mit ihm, sondern mit einer Überforderung der Eltern zu tun hat?

Nehmen wir an, der Vater hat schon dreimal «Pass auf, da steht ein Glas auf dem Tisch» gesagt, aber das Kind fuchtelt weiter herum und das Glas fällt runter. Dann ist es verletzend, wenn er etwas sagt wie «Spinnst du eigentlich, was bist du für ein Vollidiot, ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst aufpassen». Wenn er hingegen brüllt «Mann, ich hab doch grad den Boden gewischt, jetzt ist alles voller Scherben und gefährlich. Nun muss ich wieder alles putzen», ist das ganz was anderes. Das Kind merkt: «Ui, Papi ist gestresst und hat Angst.» Aber es wird nicht in seiner Integrität verletzt.

«Wenn man dem Kind sagt ‹Ich hab dich nicht mehr lieb›, ist das brutaler als Rumbrüllen.»

Nina Trepp, Erziehungsberaterin

Und was, wenn man schon eine Million Mal gesagt hat, dass das Kind nicht mit dem Wasserglas spielen und aufpassen soll? Da kann man sich doch unmöglich immer im Griff haben.

Das muss man auch nicht. Man soll ja auch authentisch sein und darf auch mal laut werden. Wichtig ist, dass man versteht, dass Kinder gesehen, gehört, ernst genommen und bedingungslos geliebt werden wollen. Der Familientherapeut Jesper Juul hat gesagt: Kinder suchen keine Grenzen, sie suchen Kontakt. Übrigens ist nicht nur die Lautstärke entscheidend. Wenn man nie schimpft und ausrastet, aber das Kind als Strafe ignoriert oder ihm sagt «Ich hab dich nicht mehr lieb, du machst mich traurig», ist das brutaler als Rumbrüllen.

Was, wenn man etwas Herablassendes, Fieses oder Beleidigendes gesagt hat?

Dann kann man hinstehen und Verantwortung übernehmen. «Ui, das ist mir so rausgerutscht, es tut mir leid. Das hat mit dir nichts zu tun. Ich brauche jetzt einfach ein paar Minuten Pause.»

«In Stresssituationen empfehle ich, dass man die Hände hinter den Rücken nimmt und die Finger ineinander verschränkt.»

Und wenn man es in der Überforderung nicht schafft, sofort zu reagieren?

Das ist nicht so schlimm. Es ist ganz normal, dass wir immer wieder an unsere Grenzen stossen. Entschuldigen und erklären kann man sich auch noch am Abend, wenn man das Kind zu Bett bringt, oder sogar noch später. In meiner psychologischen Beratung arbeite ich regelmässig mit Erwachsenen, die als Kind psychischer Gewalt ausgesetzt waren und deswegen mit einem niedrigen Selbstwert zu kämpfen haben. Wenn deren Eltern heute sagen würden «Hey, ich hab gar nicht realisiert, wie schlimm es für dich als Kind war, es tut mir leid», wäre das unglaublich heilsam, auch Jahre später noch.

Was raten Sie Eltern, die in Stresssituationen nicht mehr drohen, schimpfen oder an ihrem Kind herumzerren wollen?

Als Erste Hilfe empfehle ich, dass man die Hände hinter den Rücken nimmt und die Finger ineinander verschränkt, um zu verhindern, dass man das Kind packt oder schüttelt. Man kann sich auch wegdrehen oder weggehen, um Dampf abzulassen. Wir müssen nicht alle zu Buddhas werden, aber es ist wichtig, dass es nicht zu einer Integritätsverletzung kommt. Hilfreich wäre es auch, wenn man sich ein Time-out nehmen und der Partner oder die Partnerin übernehmen kann. Und es ist wichtig, dass man das richtige Verhalten immer wieder übt und sich in einer ruhigen Minute fragt, weshalb man in solchen Situationen an die Grenzen kommt und was einen so reizt. Oft liegt es auch an falschen Erwartungen.

Wie meinen Sie das?

Viele Leute sind sich nicht bewusst, wozu ein Kind in einem bestimmten Alter in der Lage ist. Eine vollständige Impulskontrolle und Empathie ist erst ab etwa 6 Jahren möglich. Viele haben oft das Gefühl, ein Dreijähriges müsse schon verstehen, was eine Handlung in anderen auslöst, oder es könne eine Stunde lang still am Esstisch sitzen bleiben, weil das Kinder früher auch konnten.

Eben, es scheint zu funktionieren.

Aber nur, weil sie wussten, dass sie sonst geschlagen werden. Ohne Gewalt kann man einen Dreijährigen nicht eine Stunde lang am Tisch sitzen lassen.

Das würde aber heissen, dass man den Kindern am besten alles durchgehen lässt, damit es nicht zu Konflikten kommt, und stattdessen nur an der eigenen Einstellung arbeitet. Das kann ja nicht die Lösung sein.

Nein, auf keinen Fall, Kinder brauchen eine klare Führung. Man darf Erwartungen ans Kind stellen, jedoch altersgerecht und immer gleichwertig.

Was ist mit dem schlechten Gewissen, das viele plagt? Erst recht, da sich nun zeigt, wie verletzend psychische Gewalt sein kann?

Zu denken, was man für eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater ist, weil man sich nicht immer im Griff hat, bringt nichts. Wichtig ist, Verantwortung zu übernehmen und sich immer wieder zu sagen, dass man gut genug ist. Wenn man sich selbst ständig fertigmacht, führt das zu Stress. Und im Stress reagieren wir ja so, wie wir nicht wollen. Wenn man stark darunter leidet, kann sich eine psychologische Begleitung lohnen.

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