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Neue Zahlen zur Gewalt in der Erziehung160’000 Kinder haben Eltern, die ohrfeigen

Neben Gewalt wenden viele Eltern Bechimpfungen und Beleidigungen an.

Die Uni Freiburg hat eine neue Befragung von 1605 Vätern und Müttern zur Gewalt in der Erziehung durchgeführt. 62 Prozent der Eltern geben an, nie körperliche Gewalt einzusetzen. Dennoch: Zwei Prozent der Kinder werden mit Gegenständen geprügelt, beispielsweise einem Gürtel – das sind umgerechnet rund 32’000 Kinder in der Schweiz.

Etwa 10 Prozent der Mädchen und Buben kassieren Ohrfeigen. Das entspricht etwa 160’000 Kindern. Kalt abgeduscht werden rund 48’000. Schläge auf den Hintern: etwa 300’000. 

Noch mehr Kinder und Jugendliche werden von ihren Eltern beschimpft, beleidigt, gedemütigt oder über längere Zeit ins Zimmer eingesperrt. Mehr als die Hälfte der Eltern, 60 Prozent, setzen solche Strafmassnahmen ein.

Jetzt soll jeder Art von Gewalt im Kinderzimmer ein Riegel vorgeschoben werden. Neu soll es im Zivilgesetzbuch (ZGB) heissen: Die Eltern «haben das Kind ohne Anwendung von körperlichen Bestrafungen und anderen Formen entwürdigender Gewalt zu erziehen». Und: «Die Kantone sorgen dafür, dass sich die Eltern und das Kind bei Schwierigkeiten in der Erziehung gemeinsam oder einzeln an Beratungsstellen wenden können.» 

Der staatliche Eingriff in die Erziehung war im Vorfeld umstritten. Gegner aus der SVP sprachen von einem «Ohrfeigenverbot», das «völlig weltfremd» sei und zu einer «Hippie-Erziehung» führe. Yvonne Feri, Präsidentin von Kinderschutz Schweiz und zweifache Mutter, nimmt Stellung. 

Die Universität Freiburg erhebt in einer repräsentativen Umfrage das Bestrafungsverhalten der Eltern. Was ziehen Sie für ein Fazit?

Noch viel zu viele Kinder sind zu Hause von Gewalt betroffen. Die Zahlen stagnieren, es wurde in den letzten Jahren nicht massiv besser.

Die Umfrage zeigt aber auch, dass die Mehrheit der Väter und Mütter in der Schweiz ihre Kinder nicht mit Ohrfeigen, einem Klaps auf den Po, Schütteln, Schlagen oder kalt Abduschen bestrafen.

Jeder einzelne Fall ist tragisch, gopfriedstutz! Jedes Kind, das geschlagen wird, kann eine langfristige Schädigung davontragen. Die Befragung der Uni Freiburg ergab, dass etwa jedes zehnte Kind geohrfeigt wird. Wir reden hier nicht von einem Mal, sondern von einer wiederholten angewendeten Erziehungsmassnahme. Kinder, die so entwürdigend behandelt werden, überstehen das kaum ohne Folgen. Die meisten Eltern wollen ihren Kindern Gutes tun, aber in stressigen Situationen greifen noch viele auf unangemessene Bestrafungen zurück.

Glauben Sie wirklich, dass zwei zusätzliche Sätze im Zivilgesetzbuch solche Übergriffe von Eltern verhindern werden?

Schwere Missbräuche können zwar schon heute verfolgt werden, aber künftig kann man gegen alle Formen von Gewalt in der Erziehung vorgehen.

Deutschland hat seit über 20 Jahren das Gewaltverbot gesetzlich verankert. Aber die Zahl von Kindsmissbrauch ist nach wie vor hoch.

Wenn wir wenigstens einen Teil der Gewalt gegen Kinder mit unserem ZGB-Artikel wegbringen, ist schon viel erreicht.

Yvonne Feri ist Präsidentin von Kinderschutz Schweiz und kämpft gegen Übergriffe im Kinderzimmer.

Erklären Sie uns, was künftig noch erlaubt ist und was nicht. Darf man dem Kind das Handy wegnehmen oder die Handyzeit einschränken?

Das kann als Erziehungsmassnahme Sinn machen – wenn es einen Zusammenhang mit einem Fehlverhalten oder Missbrauch des Handys gibt. Es kommt aber darauf an, wie lange und mit welcher Begründung man das tut. Das Handy für einen Tag wegzunehmen, ist für das Kind kein Unglück und gilt auch künftig nicht als Gewalt.

Was ist mit: Der Sohn weigert sich, sein Ämtli zu machen, will sich entziehen, indem er sich aus dem Staub macht, man erwischt ihn im Lift, packt ihn fest bei den Handgelenken und sagt, du bleibst jetzt hier. Künftig erlaubt oder verboten?

Dieses Verhalten der Eltern finde ich nicht anständig, es ist respektlos. Wenn mein Partner die Geschirrspülmaschine nicht ausräumt, zerre ich ihn auch nicht am Arm in die Küche. Stattdessen sage ich: «Schatz, du hast dein Amt vergessen. Würdest du es bitte noch machen.» Eine Lösung wäre, dem Kind zu sagen: «Komm, wir machen es zusammen.» Es gibt immer eine Alternative. Diese kann sein: «Ich helfe dir dieses Mal. Nächstes Mal machst du es wieder allein.»

Man kann nicht ständig mit den Kindern diskutieren und alles aushandeln. Jugendpsychologen und Erziehungswissenschaftlerinnen sagen: So erzieht man die Kinder zu Tyrannen.

Erziehung bedeutet, klare Grenzen zu setzen. Man kann das aber auf eine respektvolle Weise tun.

Was bedeutet der neue Gesetzesartikel für folgende Situation: Das Kind weigert sich lauthals, Schuhe und Jacke anzuziehen und aus dem Haus zu gehen. Dürfen ihm die Eltern die Kleider trotzdem anziehen und das widerspenstige Kind einfach aus dem Haus tragen?

Man darf es nicht so anfassen, dass es nachher blaue Flecken hat. Das kann auch der Anfang sein, dass man beim nächsten Mal stärker zupackt. Diese Eskalationsspirale kennt man aus dem Bereich der häuslichen Gewalt. Anstatt dem Kind die Jacke rabiat anzuziehen, damit man endlich aus dem Haus kommt, wäre eine Alternative, ihm zu sagen: «Wir nehmen sie jetzt mal mit, und wenn du draussen kalt hast, ziehen wir sie an.» Das ist das, was wir propagieren: einfach mal durchatmen.

«Nahrungsentzug als Bestrafung ist nicht zulässig.»

Gut, aber wenn zwei Geschwister ständig streiten und zum x-ten Mal an einem Nachmittag aufeinander losgehen, kann man das tief Ein- und Ausatmen irgendwann vergessen. Da ist es doch verständlich, dass die Mutter auch mal heftig wird und lautstark eine Standpauke hält. Darf sie das künftig noch?

Ja. Es ist weiterhin zulässig, deutlich zu sagen: So, jetzt reichts.

Ein Klassiker ist ja auch das nörgelnde Kind am Tisch beim Abendessen, das quengelnd erklärt, das Gekochte sei «grusig». Dürfen Eltern das Kind ohne Essen ins Bett schicken?

In Ihrem Beispiel hatte es eine Wahl: Es will nicht essen, daher ist das in Ordnung. Aber einfach zu sagen: «Du musst ohne Znacht ins Bett», ist problematisch. Nahrungsentzug als Bestrafung ist nicht zulässig.

Darf man das Kind in sein Zimmer verbannen?

Das kann man nicht so generell beantworten. Wenn eine Mutter kurz in Ruhe telefonieren muss, das Kinder aber partout nicht ruhig ist, dann ist es legitim, zu sagen: «Du bist zu laut, so kann ich nicht telefonieren, bitte gehe in dein Zimmer.»

Das ist also weiterhin erlaubt?

Das kann man machen, man sollte aber die Zimmertür offen lassen. Sonst wird das Zimmer zum Gefängnis, und das löst bei den Kindern grosse Ängste aus. Sie müssen immer die Möglichkeit haben, herauszukommen und mit den Eltern in Kontakt zu treten.

Was, wenn man gegen den neuen Erziehungsartikel verstösst – haben die Eltern dann die Kesb im Haus?

Das würde ich auf keinen Fall mit der Kesb lösen. So, wie es eine unentgeltliche Rechtsberatung gibt, sollte es eine Erziehungsberatung geben. Heute gibt es eine Beratung für Mütter und Väter von Kleinkindern. Wenn die Kinder älter sind, fehlt ein solches Angebot.

«Ich habe nie gesagt, dass Kindererziehung nicht anspruchsvoll ist.»

Niemand macht einen so hässig wie die eigenen Kinder. Sie provozieren bewusst und testen Grenzen aus. Eltern sind keine Übermenschen. Da ist es doch verständlich, wenn sie mal ausflippen?

Aber die Frage ist: Wie flippen sie aus? Gut ist, wenn man in einem solchen Moment kurz aus der Wohnung geht und draussen flucht: «Jetzt hätte ich die Kinder wirklich links und rechts können…» Aber der entscheidende Punkt ist: Ich sage es nicht vor ihnen. Und vor allem: Ich mache es nicht. Es sind meistens Kurzschlusshandlungen, die zu Überreaktionen führen, das kennen wir alle. Wenn man dann eine Sekunde innehalten kann, bevor man explodiert, ist schon viel erreicht.

Klingt einfach, ist aber mit kleinen Nervensägen anspruchsvoll.

Ich habe nie gesagt, dass Kindererziehung nicht anspruchsvoll ist.

Sie haben zwei erwachsene Töchter. Sind Sie früher als Mutter auch an Ihre Grenzen gestossen?

Klar. Und es wurde auch bei uns mal laut. Aber Handgreiflichkeiten hat es nie gegeben.

«Es gibt bei uns noch immer die weitverbreitete Haltung, dass eine Ohrfeige noch niemandem geschadet hat.»

Die Schweiz gehört zu den letzten europäischen Ländern, die ein explizites Gewaltverbot gesetzlich verankern. Warum diese Zurückhaltung?

Es gibt bei uns noch immer die weitverbreitete Haltung, dass eine Ohrfeige noch niemandem geschadet hat. Das habe ich auch ab und zu im Parlament gehört, vor allem von rechter Seite.

Was entgegnen Sie?

Wenn ich in zehn Jahren einem Kind zweimal einen Schlag auf den Po gegeben habe, dann macht ihm das wahrscheinlich nichts. Aber wenn ich den Klaps auf den Hintern als systematische Erziehungsmethode anwende, dann schadet es dem Kind. Das ist das Problem, und das muss man den Leuten sagen. Es geht nicht um ein Mal! Sondern um die Systematik. Sprechen Sie mit Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden. Die haben das so erlebt: Es fing an mit Beleidigungen und endete mit schlimmen körperlichen Misshandlungen.

Das Zögern könnte auch mit der Aversion der Schweizerinnen und Schweizer vor staatlicher Bevormundung zusammenhängen, in diesem Fall also mit der Haltung: Die Erziehung meiner Kinder ist meine Privatsache. Können Sie das nachvollziehen?

Ja. Kinder zu haben, ist Privatsache. Aber Gewalt an ihnen nicht. Das geht uns als Gesellschaft etwas an. Die Kriege, die es heute gibt, machen mir Sorgen. Alle diese Kinder dort, die in so jungen Jahren solche Brutalität erleben! Was macht das mit ihnen?

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Eltern, die ihre Kinder herabwürdigen, droht auch künftig keinerlei Strafe. Das neue Gesetz ist ein zahnloser Papiertiger.

Tatsächlich sieht das ZGB keine Strafen vor. Die sind im Strafgesetzbuch verankert. Nehmen wir an, Gewalt und Drohungen gegen Kinder würden zu einem Offizialdelikt, dann könnten Richter und Richterinnen Strafen aussprechen. Kinder zeigen ihre Eltern nicht an. Das ist ein Problem. Es muss eine Bestrafung nach sich ziehen, wenn Eltern ihren Kindern körperlich etwas antun oder ihnen psychische Gewalt zufügen.

Davon ist man derzeit weit entfernt. Was bringt dieser Artikel im Zivilgesetzbuch überhaupt?

Es ist der Anfang eines Prozesses. Wir wollen die Rote Karte für die Ohrfeige und andere Übergriffe wie zum Beispiel heftiges Beschimpfen.

Und die Steuerzahler sollen die Unterstützung von gestressten Eltern finanzieren?

Das kommt der ganzen Gesellschaft zugute. Warum soll es für Mütter und Väter keine flächendeckende Unterstützung geben? Für Hundehalter gibt es das, die Hundekurse waren sogar je nach Kanton eine Zeit lang obligatorisch. Sind Kinder weniger wert als ein Hund?

Die SVP bezeichnete das Ohrfeigenverbot als «völlig weltfremd» und warnte, dass es zu einer «Hippie-Erziehung führt».

Ach, wissen Sie, wie wäre es, wenn wir unsere Kinder einfach mit Liebe und Geduld erziehen würden? Ich bin überzeugt, dass Eltern, die ihr Kind mit Gewalt erziehen, in welcher Form auch immer, ein schlechtes Gewissen haben und es bereuen. Aber sie finden kein Mittel und keinen Weg, rauszukommen. Hier müssen wir ansetzen und Hilfe bieten.