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Insel Rügen und OstseeküsteWarum wollen plötzlich alle diese Felsen sehen?

Fragiles Naturwunder: Kreidefelsen in Nationalpark Jasmund auf Rügen.

Das Haus, das sich bald nicht vor Besuchern wird retten können, bekommt nach der Renovierung gerade noch den letzten Schliff. Wir befinden uns in Greifswald, ganz im Norden Deutschlands, fast schon an der Ostseeküste. Der mehrstöckige Backsteinbau in der Langen Strasse, im Schatten des St.-Nikolai-Doms, gehörte einst der Familie Friedrich. Hier wurde am 5. September 1774, also vor bald 250 Jahren, als sechstes Kind eines Seifensieders, Caspar David Friedrich geboren. Der Maler, der Stille so auf die Leinwand zu bannen wusste, dass man sie fühlen kann. Im Keller seines Geburtshauses, das heute das Caspar-David-Friedrich-Zentrum beherbergt, kann man noch heute den grossen schmiedeeisernen Seifensiedekessel bewundern, der etwas von dem Leben erahnen lässt, das dieser Jahrhundertmaler neben seiner Kunst auch noch lebte. 

Das «Friedrich-Jahr» ist angebrochen, das Jubeljahr zum 250. Geburtstag. Die ersten Korken knallten schon Mitte Dezember, als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Hamburger Kunsthalle die erste von drei grossen Ausstellungen in Deutschland eröffnete. Der Ansturm seither war und ist gewaltig: Fast 180’000 Tickets hat die Kunsthalle schon verkauft. Die zweite Ausstellung, in Berlin, wird Mitte April eröffnet, die dritte dann im August in Dresden. Ein stimmiger Abschluss der Ausstellungstrilogie, denn in Dresden, wohin Friedrich im Herbst 1798 zog, starb er 1840. Dort ist er begraben.

Das berühmteste Bild war noch nie in der Heimat ausgestellt

Der wichtigste deutsche Maler der Romantik wird das ganze Jahr hindurch gefeiert, auch in seiner Heimatstadt Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Die 60’000-Einwohner-Stadt hat eigens eine Website freigeschaltet. «250 Jahre Caspar David Friedrich: Von Greifswald in die Welt». Vom zweiten Satz hätte man vielleicht abgeraten, weil es nun so klingt, als sei Greifswald «ab der Welt», was natürlich nicht stimmt, was auch schon zu Friedrichs Lebzeiten nicht stimmte. 

In diesem hübschen Backsteinhaus steht noch heute der Seifensiederkessel von Caspar Davids Vater.

Es lohnt sich, aus Anlass des Friedrich-Jahres mal in diese Region zu fahren, sich über die Äcker zu nähern, die berühmte Silhouette der Kirchtürme in den Blick zu nehmen, sich die Ruine des Klosters Eldena anzusehen und den Dom St. Nikolai, Friedrichs Taufkirche, wo zu Ostern die neuen Fenster im Ostchor eingeweiht werden sollen. Der in Berlin ansässige Starkünstler Ólafur Elíasson hat sie entworfen, angeregt durch Friedrichs Farben. 

Natürlich kann man auch ins Pommersche Landesmuseum gehen, wo im Spätsommer sieben Wochen lang Friedrichs Sehnsuchtsbild aller Sehnsuchtsbilder ausgestellt sein wird: «Die Kreidefelsen auf Rügen», wohl 1818 gemalt. Das Gemälde, das seit vielen Jahren in Winterthur zu Hause ist, genauer: in der Sammlung Oskar Reinhart am Stadtgarten, die das jetzige Jubeljahr für eine Sanierung nutzt, war zuvor noch nie in Friedrichs Heimat zu sehen. 

Was man eröffnet, das will man auch anschauen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor dem «Kreidefelsen auf Rügen» in der Hamburger Kunsthalle, Dezember 2023.

Mit viel Geld von Land und Bund hat das kleine Greifswald ein grosses Programm auf die Beine gestellt. Im «Jubiläumsbüro» der Stadt treffen wir Susanne Papenfuss, Fachreferentin für Friedrich. Der «Hype» um den Maler, den wir gerade erlebten, sei für sie nur erklärbar mit der «ganz unmittelbaren Wirkung seiner Bilder». Friedrich sage, «schau, du bist Teil dieser Natur».

Friedrich, fromm und tief protestantisch geprägt, malte Menschen, versunken in der Betrachtung der Schöpfung. Menschen, die Wege zurückgelegt haben, die gewandert sind. Und zwar ohne jene Outdoor-Ausrüstung, die für manche heute schon bei einem kurzen Spaziergang Pflicht sei. «Dabei ist die Ausstattung doch völlig unwichtig. Man kann doch auch ganz normale Schuhe anziehen, und dann schmiert man sich ’ne Stulle, und los.» So, wie einst Friedrich. Er lenke die Aufmerksamkeit auf das, was wirklich wichtig sei. Mit Friedrich könne man wieder «schauen lernen, innehalten». 

Der «Wanderer über dem Nebelmeer», 1818 gemalt, gehört heute zur Sammlung der Hamburger Kunsthalle.

Sehen, was da ist – und erkennen, wie grossartig es ist: Dafür stehe Caspar David Friedrich. Denn er habe eben nicht idealisierte «italienische Landschaften» gemalt, erklärt Susanne Papenburg, sondern «’ne Eiche, ’n Schiff, das ist es auch schon». Sie lacht – und wird gleich wieder ernst. Denn natürlich frage sie sich auch, «was passiert da gerade mit dieser Landschaft?».

Dort, wo der Meister seine Motive fand, legen bald Tanker an

Ja, was passiert mit ihr? An dieser Frage kommt man im Jubiläumsjahr nicht vorbei. In der Binzer Bucht, keine zehn Kilometer von Friedrichs Kreidefelsen entfernt, soll demnächst ein Terminal für Flüssigerdgas in Betrieb genommen werden, dabei haben Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gerade in einer Studie klargestellt, dass ein Terminal auf Rügen weder «unbedingt notwendig noch kosteneffizient» sei. Hält die deutsche Regierung trotzdem an ihren Plänen fest, werden dort, wo Caspar David Friedrich unzählige Motive fand, bald Gastanker anlegen.

Jeder, mit dem man in Greifswald darüber spricht, schüttelt den Kopf. Vermutlich liegt genau in diesem Widerspruch der Grund dafür, dass Hunderttausende im Jahr 2024 diese Bilder sehen und die Orte besuchen wollen. Im letzten Moment vor der Zerstörung, sozusagen.

Schon noch schön, moll. Die Kreidefelsformation Königsstuhl auf der Insel Rügen.

«Auch in Friedrichs Bildern ist ein ‹letzter Moment› zu sehen», sagt Kunsthistoriker Kilian Heck von der Universität Greifswald. «Er zeigt uns eine gerade noch heile Welt, kurz vor der Industrialisierung.» Und warum schauen wir uns das so gern an? «Weil die Bilder wie Fenster in eine andere Welt funktionieren», eine Welt, «mit der wir aber doch verbunden sind. Ein bisschen wie bei Harry Potter», sagt er und lacht. «Es ist Fantasy, ganz klar, aber es hat auch mit unserer Realität zu tun.» 

Nach dem Tod erst mal vergessen

Kilian Heck ist Experte für die romantische Malerei. Seit langem forscht er zu Friedrichs Zeitgenossen Carl Blechen, dem übrigens bis 1920 die «Kreidefelsen auf Rügen» zugeschrieben wurden. Jüngst ist Hecks Buch «Carl Blechen und die Bausteine einer neuen Kunst» erschienen, gerade zur rechten Zeit, denn in vielerlei Hinsicht war Caspar David Friedrich für Carl Blechen massgebend. Blechen blieb allerdings nach seinem Tod 1840 ein bekannter, gefragter Künstler, «ein Genie», wie Max Liebermann ihn nannte. Friedrich hingegen geriet schon zu Lebzeiten, erst recht aber nach seinem Tod, in Vergessenheit. Das änderte sich erst mit der sogenannten Jahrhundertausstellung 1906 in der Nationalgalerie in Berlin. Mit der «Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775 bis 1875» trat Caspar David Friedrich, 66 Jahre nach seinem Tod, wieder ins Bewusstsein. 

Friedrichs Bilder funktionieren wie ein Fenster zu einer anderen Welt: «Frau am Fenster» entstand 1822.

Natürlich ist der Romantiker Friedrich auch von beiden deutschen Diktaturen ideologisch vereinnahmt – oder sollte man sagen: missbraucht? – worden. Die Zeit des Nationalsozialismus interessiert Kilian Heck besonders, und im eindrucksvollen Archiv der Uni Greifswald blieb vieles erhalten, was in diesem Jubiläumsjahr von Bedeutung sein könnte. Aber bis jetzt hat – anders als Florian Illies, der für seinen unlängst erschienenen Friedrich-Bestseller «Zauber der Stille» den Austausch mit Heck gesucht und im Keller des Instituts die Akten gesichtet hat – keiner der Kuratoren der grossen Ausstellungen dieses Jahres nach den Greifswalder Archivalien gefragt, was den Kunsthistoriker erstaunt. Er findet es «bedauerlich», dass die Rezeption Friedrichs im Nationalsozialismus in den Ausstellungen ausgespart und lediglich in den Katalogen thematisiert wird. 

Ein Lieblingskünstler der Nazis

Freilich hat sich der Nationalsozialismus «seinen» Friedrich erschaffen, einen «nordisch-germanischen Typ» mit rotblonden Haaren, blauen Augen und «vaterländischer Gesinnung», der, den Urgewalten ausgesetzt, Hünengräber und standhafte deutsche Eichen zeichnet. Man müsse nur mal das pathetische Vorwort des Buches «Caspar David Friedrich, der Landschaftsmaler. Ein Volksbuch Deutscher Kunst» von Kurt Karl Eberlein lesen, das im Herbst 1939, also genau zu Kriegsbeginn, erschienen sei. Darin feiert Eberlein – Kunsthistoriker und «Oberoberobernazi», wie Kilian Heck sagt – den «grössten Landschaftsmaler Deutschlands» in quasireligiöser Sprache als Auferstandenen, der im Dritten Reich «mit seiner unvergänglichen Kunst wieder unter uns» lebt. Friedrich möge «das grosse alte Gesetz der nordischen Kunst» nun vor allem der Jugend erhellen. 

Ein nordischer Typ, der standhafte deutsche Eichen malt: Friedrichs Kunst passte gut in die Nazi-Ideologie. Das Porträt stammt von Friedrichs Zeitgenossen Gerhard von Kügelgen.

Ein gutes halbes Jahr später, zum 100. Todestag des Malers am 7. Mai 1940, ist es wieder Kurt Karl Eberlein, der in Greifswald eifrig eine Gedenkfeier im Stadttheater organisiert, die Grössen «des Reiches» einlädt und sogar die Bühnendekoration selbst entwirft: das Hakenkreuz im Lorbeerkranz, über Friedrichs Büste thronend. Für Frontsoldaten gibt es Vorlesungen über die Kunst Caspar David Friedrichs. Geistiges Rüstzeug. «Und am nächsten Morgen wurde die ganze Kompanie praktisch aus dem Hörsaal an die Ostfront gekarrt.» Als Souvenir nahmen sie eine «Feldpostausgabe» mit 60 Bildern Caspar David Friedrichs mit, ein Büchlein, so klein, dass es in jede Brusttasche passte. 

Skizze der Bühnendekoration zur Gedenkfeier anlässlich des 100. Todestages von C. D. Friedrich am 7. Mai 1940.

Im Jubiläumsjahr 2024 traute sich offensichtlich keiner der Ausstellungsmacher an die Thematik des Nationalsozialismus heran. Wobei, so ganz stimmt das nicht: Heck hat die Archivalien der «Huldigungsfeierlichkeiten» von 1940 seinen Studentinnen und Studenten gezeigt – und die beschlossen, eine eigene Ausstellung zu machen und all das zu präsentieren, was der fanatische Herr Eberlein sich da für den Mai 1940 erdacht hatte. Den Missbrauch Friedrichs werden sie zeigen, denn auch das ist ein Stück deutscher Kulturgeschichte. 

Es wird also noch einen Grund mehr geben, sich in diesem Jahr auf den Weg nach Nordosten zu machen, in Friedrichs Heimatstadt Greifswald.