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Reisepionierin Jemima Morrell in den AlpenSo verlief die erste Pauschalreise in die Schweiz

Ende Juni 1863 brechen die Reisepionierin Jemima Morrell und sechs Clubmitglieder unter der Führung von Thomas Cook in Richtung Alpen auf.

«Alle Welt war schon in Schottland, einige von uns kennen Land’s End, Irland ist nicht jedermanns Sache, die Weltausstellung hat uns allen London vergällt, Scarbro’ eignet sich nur für Invalide und Kinder, den Lake District haben wir vor Jahren abgehakt, und Fleetwood ist schlimmer als Scarbro’ – wohin soll es als Nächstes gehen?»

Diese Frage treibt 1863 eine kleine Runde wanderbegeisterter Engländer um. Der «Junior United Alpine Club» ist schon deshalb bemerkenswert, weil hier Männer und Frauen zusammen ihrem Hobby nachgehen. Die meisten Bergclubs werden noch ein Jahrhundert brauchen, um weibliche Mitglieder zuzulassen. Bald aber wird der kleine Verein auch in anderer Hinsicht wegweisend.

Zwar wird er keinen Anteil haben an kurz bevorstehenden Sensationen wie der Erstbesteigung des Matterhorns 1865. Doch die von der Heimat Gelangweilten bekommen von einem gewissen Thomas Cook ein verlockendes Angebot: die «First Conducted Tour of Switzerland», drei Wochen lang, samt «billigen Tickets zum Mont Blanc». Mit anderen Worten: die erste Pauschalreise in die Schweiz überhaupt.

Das passt in die Zeit, denn die Briten sind ganz vorne dabei bei der Erkundung der Alpenregion – mit der Schweiz als Lieblingsziel. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts haben die Einheimischen erste Berggasthöfe eröffnet, um naturbegeisterte Besucher zu empfangen, seither kommen immer mehr Ideen hinzu. Ihre eigene Reise wird das Clubmitglied Jemima Morrell später zu dem Schluss bringen: «Niemals wurden Berge gemacht, die mehr auf die Sinne einwirken als diese in der Schweiz! Oder die besser dazu genutzt wurden, dem glücklosen Touristen allerorten das Geld aus den Taschen zu ziehen!»

Ende Juni 1863 machen sich Morrell und die sechs übrigen Clubmitglieder unter Cooks persönlicher Reiseleitung mit zunächst 130 weiteren Reisenden über Frankreich in Richtung Alpen auf. Der Nachwelt hinterlässt die 31-Jährige ein fröhlich-bissig verfasstes Tagebuch, in dem sie von sich selbst in der dritten Person schreibt.

Jemima Morrell (1832–1909, undatierte Aufnahme) war das, was man heute ein Reisefüdli nennen würde.

So etwa: «Die Damen Misses Jemima, Sarah, Eliza und Mary (…) haben die weltumspannend wichtige Gepäckfrage gelöst und beanspruchen für sich, mit weniger Bagage in die Alpen gereist zu sein als je ein Tourist zuvor.»

Auch sonst gibt sich die viktorianische Reisegesellschaft gern bescheiden: Eingedenk des deutschen Sprichworts «Nur Engländer und Verrückte reisen erster Klasse» bewegt man sich in Abteilen zweiter Klasse über Paris und Lyon bis nach Genf. Dort schrumpft die Gruppe so zusammen, dass man fortan in drei Kutschen passt, während der Rest «in weiser Voraussicht eigene Ziele ansteuerte». Das eigentliche Abenteuer kann beginnen.

In sommerlicher Hitze geht es durch Dörfer aus weiss gekalkten Häusern und durch beeindruckende Natur. Der Mont Blanc ist dabei ein frühes Highlight: «Meilenweit erstreckt er seine gewaltigen Schultern vor uns, und seine tiefen Klüfte wirken noch tiefer im Kontrast zu den gefrorenen Eisbächen.»

Das Panorama der nördlichen Seite der Mont-Blanc-Kette, von Brevent aus gesehen.

Zugleich schlagen sich die Pioniere der Pauschalreise mit den Banalitäten des Ferienalltags herum. So etwa mit der ewigen Frage: Ist das hier nicht viel zu teuer? Zumindest ab und an siegt die Vernunft: «Da unsere Beschlüsse über kostengünstiges Reisen zwar aufgeweicht, aber doch nicht gänzlich aufgehoben waren, folgten wir dem Rat unseres treuen Baedekers», notiert Morrell in Chamonix.

Soll heissen: Restepicknick statt Zmittag à la carte. In anderen Momenten tappt die Gesellschaft voll in die frühen Touristenfallen. So kauft man überteuerte Wanderstöcke und lässt sich auf der ersten langen Wanderung Wasser im Glas andrehen, bevor man die Gratisquelle entdeckt.

Dem Naturerlebnis tut das alles keinen Abbruch. Eine Wanderung bei Montenvers fasziniert die Gruppe zutiefst: «Wie seltsam, wie überaus unpassend es sich an diesem heissen Sommertag anfühlte, unter den Füssen das Eis knirschen zu hören und in gähnende Spalten hinabzublicken, blaue kristallgesäumte Schlünde von 25 bis 30 Metern Tiefe.»

Karte des Chamouni-Gletschers in der Nähe von Chamonix.

Doch obwohl man noch viele Jahrzehnte von Touren à la «Europe in ten days» entfernt ist, geht oft alles zu schnell. In Morrells Worten: «In Anbetracht der Mühen, die es kostet, dieses berühmte Tal zu erreichen, wäre es sehr viel besser gewesen, seinen Schönheiten mehr Zeit zu widmen.» Wie solle man alle Eindrücke verarbeiten und zu dauerhaften Erinnerungen werden lassen, wenn die Zeit fehle? Und dann, immer wieder, der frühe Kommerz: «Diese Erfrischungen, die an jedem kleinen Chalet (…) in verführerischster Weise ausgelegt sind, stellen für den Schweiz-Touristen einen nicht zu vernachlässigenden Ausgabenposten dar.»

Schönheit hat eben ihren Preis. Nach dem Mer de Glace gerät Morrell besonders im Rhônetal ins Schwärmen. Sie schreibt von smaragdgrünen Weiden und nussbraunen Chalets unter azurblauem Himmel, von Walnuss-, Birn-, Apfel- und Pflaumenbäumen. Und der «Junior United Alpine Club» schont sich nicht: Die vollen 40 Kilometer habe der ausdauerndste Teilnehmer geschafft, heisst es nach einer Tour. Auch das passt zum Zeitgeist: Immer mehr wohlhabende Europäer ziehen inzwischen die sportliche Erkundung der Natur der kulturorientierten Grand Tour durch Europa vor, die für die Generationen davor noch das Nonplusultra war.

Eine anonyme Exkursion auf dem Gletscher, fotografiert und koloriert um 1908.

Über den Mann, der alles organisiert hat, verliert Morrell nur am Rande Worte. So heisst es, man habe sich in Martigny «schweren Herzens von unserem liebenswürdigen Mr. Cook» verabschiedet, der «traurig, so schien es uns, den Schönheiten der Schweiz den Rücken kehrte» – um die nächsten Reisen zu arrangieren.

Mit seiner Idee, Transfers, Übernachtungen und Ausflüge zu immer bequemeren Paketen zu schnüren, wird der Engländer den Massentourismus auf der ganzen Welt beeinflussen. Mit der Schweizreise legt er einen weiteren Grundstein für das heute erfolgreichste Reisemodell überhaupt – wenn auch die spätere Thomas Cook Group 2019 spektakulär pleitegehen wird.

Die Wandergruppe von 1863 tourt jedenfalls ohne Mr. Cook weiter. Mal beisst man sich an ungewohntem Brot fast die Zähne aus («Frage: Sind die Zahnärzte mit den Bäckern im Bunde?»), mal gibt es ernste Momente, in denen dörfliches Elend nicht mehr zu übersehen ist: «Diese wunderschöne Gegend scheint eine der ärmsten und melancholischsten in ganz Nordeuropa zu sein.»

Solche Realitätschecks sind aber rasch wieder vergessen. Macht doch genüssliches Lästern viel mehr Spass. Ob über ein Sieben-Gänge-Menü mit typischen Spezialitäten, das «Gämse alias chèvre (…) in einer säuerlichen Sosse» ebenso enthält wie «ein Eis, das ganz genauso aussah wie ein halbes Pfund Butter». Oder über andere Touristen, die sich in den Herbergen beobachten lassen: «Frage: Zählt eine Europareise zu den Ködern, die alte Männer auswerfen, um ihre jugendlichen Bräute anzulocken?» Oder über den langweiligen Betrieb in so manchem Heilbad – denn neben dem sportlichen Alpinismus sind die Sanatorien die zweite Spezialität der Region.

Da ist doch einiges gegangen in den letzten 120 Jahren: Leukerbad, anno 1861.

Morrell zeigt sich köstlich amüsiert von teuren Anwendungen wie «der ‹Traubenkur› in der Nähe von Vevey, wo der Patient bis zur Mittagszeit sechs Pfund weisse Weintrauben verspeist, oder dem Molke-Institut nahe Neuchâtel, wo eine Diät aus Käsewasser, das bei der Käseherstellung von der Milch übrig bleibt, verordnet wird.» Der Club wandert da lieber mit zwei Maultieren und einem Bergführer auf die Gemmi.

Belohnung nach der Kraxelei: Die Sicht auf den See auf der Gemmi.

Teils direkt an Steilhängen entlang. Oder veranstaltet eine Schneeballschlacht, bei der gar das Glasauge eines Teilnehmers herauskugelt. Das Thema Männer und Frauen, das der Club meist fortschrittlich ignoriert, kommt am ehesten in Seitenhieben vor. Etwa wenn Morrell über eine Situation am Steilhang am Rande des Gasterntals schreibt. Nur mit Glück sei dort niemand im Schwindel abgestürzt, «wobei sich unsere Sicherheit ganz gewiss nicht der Übersicht der ‹geborenen Beschützer› verdankte, die, so schien es, in ein Gespräch über Einkommenssteuer vertieft waren».

Und so bewegt sich die Reisegruppe unaufhaltsam durch das Berner Oberland mit neu gebauten Chalets, die bereits «einigen Unternehmergeist» verraten, mit Kutschen, Ruderbooten, Dampfschiffen wie auf dem Thunersee, bis hin zur Jungfrau und zum Staubbachfall. Auch dort zeigen sich schon Ansätze des Massentourismus, ist der Weg zwischen Wasserfall und Gasthaus mit Läden und Bettlern gesäumt.

Und das offensichtlich schon seit einiger Zeit, denn Morrell zitiert Charles La Trobe, der bereits in den 1820er-Jahren die Alpen erkundete: «Sie belagern noch den abgelegenen Pfad in einer langen Reihe den Berg hinauf bis in beträchtliche Höhen, wie Schrotkörner, die nur darauf warten, dass der Reisende sich nähert, um zu explodieren.»

So hat Interlaken ums Jahr 1873 ausgesehen.

In Interlaken wundert sich die Britin besonders über den Sonntag, werde dieser doch wie ein Ferientag begangen, an dem jeder einfach das tue, was er am liebsten mag. Wie hingegen ein typischer Tag der Touristen von der Insel aussieht? Sehr frühes Aufstehen im Hotel («um halb fünf fand die tägliche Vernichtung von Brot, Brötchen und Honig statt»), Spiessrutenlauf durch geschäftstüchtige Einheimische («Mit unseren Ranzen bewaffnet, brachen wir auf und erteilten den horrenden Forderungen eines ganzen Schwarms von Bergführern eine Abfuhr»), dann aber immer wieder die erhofften einzigartigen Momente.

Die Gruppe bewundert Alphornspieler, sieht die Spuren von verheerenden Lawinenabgängen, wandert über Gletscher. Und hat offensichtlich ein Gefühl für Kitsch und Inszenierung entwickelt. An den Giessbachfällen beschreibt Morrell, welches Spektakel der «Besitzer von Hotel, Gelände und ‹dressiertem› Wasserfall» in der Abenddämmerung seinen Gästen mit einer Lichtershow bietet.

Und dann neigt sich das Abenteuer dem Ende zu. Doch die Rückreise per Bahn beinhaltet eine Bonus-Etappe: Paris mit seinen Kirchen, Parks, Boulevards, Museen und Läden.

Die Seine in Paris um 1860. Im Hintergrund sieht man die Notre-Dame.

Hier allerdings geht das Konzept der Reise nicht mehr ganz auf, denn «auch wenn wir mit unserem Kurzbesuch in Paris zufrieden waren, müssen wir doch eingestehen, dass wir es in eher unvorteilhaftem Lichte sahen. Die Wirkung unserer erlebnisreichen Tour durch die Schweiz und die dem schnellen Reisen geschuldete Übermüdung überkamen uns gerade dann, als grösstes Durchhaltevermögen gefordert war, um die Strapazen einer Besichtigungstour durch eine Grossstadt zu bestehen.» Sich zu viel vorzunehmen – auch das also ein Fehler, der bei Reisen Tradition hat.

Das Reisetagebuch ist das einzige erhaltene Werk von Jemima Morrell (1832-1909). Ein paar Jahre nach ihrer Rückkehr heiratete sie, bekam einen Sohn und lebte bis zu ihrem Tod ein Leben, das undokumentiert blieb. Ihre Aufzeichnungen blieben lange unbekannt und wurden 1963 wiederentdeckt und veröffentlicht. Die verwendeten Zitate stammen aus «Miss Jemimas Journal. Eine Reise durch die Alpen», erstmals aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Heike Steffen und 2014 im Verlag Rogner & Bernhard erschienen.