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Selbsthilfe-Trend «Shadow Work»Lückentext ausfüllen und gut ist – Soziale Medien banalisieren die Psyche

In den eigenen Abgrund schauen: Das will der neuste Mental-Health-Topos Schattenarbeit.

Aufgewacht. Sich müde gefühlt, fertig, am Ende. Zuspruch erhofft, das Internet konsultiert. Ebendort festgestellt, dass müde, fertig und derlei Wörter keine Kriterien sind, die noch irgendeine Relevanz besässen. Junge und jung bleibende Menschen sind nicht fertig oder am Ende, sie sind auf kultivierte Art und Weise erschöpft. Sie pflegen ihre Abgründe.

Das Internet oder einen echten Raum ohne eine psychologische Diagnose zu betreten, ist eine verwegene Angelegenheit, zumal in der Ära der Grosskrisen. Eine Diagnose ist das Rüstzeug der Moderne, fast alle haben eine. Oder suchen danach. Auf Tiktok und Instagram steht ein bunter Diagnosestrauss bereit. Hochstapler-Syndrom, Depression, Hochsensibilität, Co-Narzissmus. Kachel an Kachel stehen Lifestyle-Konflikte neben ernsten Krankheiten, so penetrant wie Fernsehwerbung in den 90ern.

Der neueste Mental-Health-Topos heisst Shadow Work, Schattenarbeit. «Schatten», weil der Schweizer Psychiater und Freud-Zeitgenosse Carl Gustav Jung im 20. Jahrhundert ein Konzept der Analytischen Psychologie entwickelte, das von einer verborgenen Seite der menschlichen Psyche ausgeht. Sehr vereinfacht gesagt sollen dort persönliche und kollektive Anteile schlummern, die man unterdrückt, ablehnt, abgespalten, noch nicht entdeckt oder gelebt hat.

Und «Arbeit», weil die US-Amerikanerin Keila Shaheen (früher in der Marketing-Abteilung von Tiktok und heute ebendort reichweitenstarke Muse für psychische Gesundheit) in äusserst loser Anlehnung an Jung ein Buch namens «Shadow Work Journal» geschrieben hat. Wer zehn Minuten am Tag mit seinem Journal arbeite und seine Schatten annehme, erreiche Selbstakzeptanz und bedingungslose Liebe, schreibt die Autorin. Experten bezweifeln das.

Schlechte Gefühle sind okay, aber bitte schnell zu überwinden

2021 veröffentlicht, ist das Buch in den USA ein Bestseller, vor kurzem ist die deutsche Übersetzung erschienen. 221 Seiten, von denen sehr, sehr viele selbst auszufüllen sind. Welche Farbe hat deine Wut? Welche negativen Gedanken hast du im Augenblick? Exakt, es ist ein Lückentext.

Bevor der Leser final heilen darf, soll er ein «Versprechen» abgeben. «Ich, ______, verspreche am heutigen Tag, dass ich daran arbeiten werde, mich weiterzuentwickeln und zu akzeptieren.» Dann die übliche Selfcare-Romantik, man müsse verletzte Teile annehmen, für sie sorgen und, Achtung, das Fernziel all dessen: «mehr Licht in diese Welt» bringen. Frei aus dem Esoterischen übersetzt: Der Einzelne kann die Welt in Ordnung bringen. Schlechte Gefühle sind okay, aber bitte schnell zu überwinden.

Die sogenannte Heilungsreise ist der Bildungsroman unserer Zeit und Mental Health ein Wirtschaftszweig, der mehr und mehr abseits institutionalisierter Strukturen stattfindet. In sozialen Medien verfremden spirituelle Lehrerinnen und fragwürdige Coachs etablierte Konzepte und wollen weismachen, dass man mit ein wenig Anleitung vor dem Smartphone gesunden könne. Do it yourself im Baumarkt namens Psyche.

Die Journale zielen auf die 15- bis 34-Jährigen

Bei all dem Schattencontent kommt man vielleicht auf die Idee, dass man sich mal mit sich selbst beschäftigen muss. Dass man Wunden und Traumata haben könnte. Haben müsste. Wo doch überall danach gefragt wird, als ginge es um die Uhrzeit. So wird Krankheit zu einer Ware, einem Distinktionsmerkmal. Sie ist immer und überall und – jetzt kommt der perfide Part – soll aber eigentlich nicht sein und gehört geheilt. Abgeschafft. Was das Gegenteil von Enttabuisierung ist. Buch und Internet, C. G. Jung und Keila Shaheen, depressive Episoden und Licht, auf Tiktok passt das zusammen, was nicht zusammenpasst.

Die Journale zur Schattenarbeit zielen offenkundig auf die 15- bis 34-Jährigen. Sehr junge Menschen, denen man vor zehn Jahren en gros noch unterstellt hätte, dass sie sich jetzt mal schöne zehn Jahre machen, bevor das Leben zuschlägt. Sehr junge Menschen, die dann eine Pandemie erlebten und kein Austauschjahr, ausgestattet mit einer gewissen Krisenroutine und Grundeinsamkeit.

Sehr junge Menschen, welche suchen und finden – und Tiktok mit den Schlagworten #schattenarbeit und #shadowwork fluten, Letzteres wurde mehr als zwei Milliarden Mal aufgerufen. Manche Schattenarbeiter weinen, andere wirken, als seien sie auf dem Weg zu einem Rave. Ein Auszug: «Gott gibt dir wieder Probleme, weil er will, dass du wächst.» «Ich hab mich für mich und meine Heilung entschieden.» «Damit du nen Step nach oben kommst.»

Anders gesagt: Wer jetzt nicht heilt, der hat ein echtes Problem.

Schlechte Tage und Wochen gehören zu einem Menschenleben dazu

Um Missverständnisse vorzubeugen – dass über Depressionen, Ängste, Panik und alles, was einen sonst noch so niederdrücken kann, offener gesprochen wird als in den eisernen Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ist ein Fortschritt, ein gewaltiger.

Nur sollte ein Problem auch ein Problem sein dürfen. Eine der Definition nach ungute Sache, für die es eventuell eine Lösung gibt, bei deren Bearbeitung man jedoch kein Licht in die Welt tragen oder sonstige kapitalistische Wünsche erfüllen muss.

Und dann gibt es Unterschiede zwischen schlechten Tagen und Wochen, die zu einem Menschenleben dazugehören, ohne Schattenarbeit und Selbstausleuchtung zu bedürfen, und ernsten Erkrankungen. Depressionen und Ängste sind die häufigsten, im Zuge der grassierenden Diagnostizitis laufen sie Gefahr, banalisiert zu werden.

Das «Shadow Work Journal» von Keila Shaheen ist ein Bestseller.

Anruf bei Ralf Vogel, er ist Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut und Lehranalytiker am C.-G.-Jung-Institut Zürich. Auch zu ihm in die Praxis kamen zuletzt Menschen mit schwarzem Journal und wollten Schattenarbeit machen. In den Büchern sieht er eine «Selbstbeschäftigungsmöglichkeit», «eine Behelfslösung» – «aber therapeutisch würde ich das nicht nennen, wenn es um echte, tief sitzende Probleme geht». Manchen Menschen tue es nicht gut, allein zu sein, wenn Dinge hochkommen. «Die brauchen ein Gegenüber, das das gut handeln kann.»

Die um sich greifende Selbstreflexion beobachtet Vogel schon seit zwanzig, dreissig Jahren, diesen Wunsch, sich weiterzuentwickeln. Dass Selbsthilfeliteratur so erfolgreich ist, sieht er auch als Folge eines Mangels an seriösen Angeboten von Therapie. In der Schweiz wartet man zum Teil mehrere Monate auf einen Therapieplatz.

Man ahnte es: Was in den Selbsthilfebüchern als moderne Jung-Nachfolge verkauft wird, hat mit dem Original nicht viel zu tun. «Der Schattenbegriff wird folklorisiert und banalisiert, diese Bücher beschäftigten sich mit zwei, drei Zitaten von C. G. Jung, aber nicht mit dem sehr komplexen Konzept», sagt Vogel.

Nicht, dass man jemals mit sich selbst fertig würde, leider und Gott sei Dank

Was ist er dann, der Schatten nach Jung, stark heruntergebrochen? «Grundsätzlich ist es ein Konzept eines geschichteten Unbewussten, das oben eine Möglichkeit des Nachdenkens über von mir selbst abgelehnte Aspekte hat. Je weiter ich in diesem Modell nach unten komme, desto allgemeiner wird diese dunkle schattenhafte Seite, bis sie ganz unten auf ein kollektives, dunkles Böses stösst. Die Idee ist, dass wir alle das in uns herumtragen.»

Es gibt Lückentexte, die füllt man aus und gut ist. Die Multiple-Choice-Fragen bei der Führerscheinprüfung, die Statistik-Prüfung an der Uni. Fertig, jubelt das Gehirn. Fertig, jubelt es auch, falls man die letzte Seite des Schattenjournals erreicht, wenn auch aus anderen Gründen.

Nicht, dass man jemals mit sich selbst fertig würde, leider und Gott sei Dank. Wenn am Ende alles bedingungslose Liebe wäre und alle, die das Schattenjournal artig ausgefüllt haben, gute Menschen wären, hiesse das ja auch, dass von den Schattenseiten kein Schatten übrig bliebe, sondern nur Licht. Physikalisch ist das unmöglich.