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Interview zu Mental Health«Ein Klient hatte Sex mit 27 Personen – in vier Tagen»

Die Expertin sieht eine Enthemmung durch Anonymität und fehlende soziale Kontrolle: Internetpornografie auf dem Smartphone.

Frau Melzer, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie, bereits 17-Jährige suchten Sie wegen Pornosucht auf. Wie kann das sein?

In diesem Alter besitzen fast alle Jugendliche ein Smartphone – und damit haben sie einen unkontrollierten Zugang zu Pornografie. Die Kombination aus allgegenwärtiger Verfügbarkeit von Pornos, der natürlichen Neugier und der hormonellen Veränderungen während der Pubertät: Das ist der Grund für ein so frühes sexsüchtiges Verhalten. Der besagte Jugendliche hatte bereits mit 14 Jahren Zugang zum Darknet, dort sah er sich extreme Pornoinhalte an. Das führte bei ihm zu einer grossen Verunsicherung bezüglich seiner sexuellen Orientierung.

Was heisst das konkret? Wie viel Zeit verbringen Süchtige mit dem Schauen von Pornos?

Der Zeitaufwand kann extrem sein. Einige meiner Klienten berichten von bis zu 40 Stunden Pornokonsum pro Woche, oft auf Kosten des Schlafs. Sie versuchen, beim Masturbieren den Orgasmus hinauszuzögern, um möglichst lange auf einer Welle des Dopamins zu surfen.

Wie geht es dem Jugendlichen heute?

Der junge Mann hat inzwischen sein Abitur abgeschlossen und beginnt ein Studium. Er hat soziale Kontakte aufgebaut und interessiert sich für ein Mädchen. Wir haben die Therapie beendet.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer generellen Triebenthemmung, der Sie in Ihrer Praxis begegnen. Einer Masslosigkeit von Frauen und Männern nicht nur beim Sex, sondern ebenso beim Essen, Shoppen oder auf Social Media. Leben wir eine Kultur der Exzesse?

Ich spreche von einer Autonomisierung der Triebe. Die digitale Welt enthemmt durch Anonymität und fehlende soziale Kontrolle, was unsere natürliche Impulskontrolle überfordert. Gleichzeitig sind wir immer stärkeren Belohnungsreizen ausgesetzt. Soziale Netzwerke, Onlineshopping, Sex, Ernährung, Gaming: Geködert werden wir überall. Die Folge: Es gibt immer mehr willensschwache Dauerkonsumenten, die ihre Triebe nicht mehr kontrolliert bekommen.

Sie übertreiben doch!

Ich denke nicht. Die Verliererinnen und Verlierer dieser Entwicklung sehe ich tagtäglich in meiner Praxis. Wie ein nimmersattes Krümelmonster greifen sie überall dort zu, wo Belohnungsreize in Aussicht gestellt werden. Sie sind ruhe- und rastlos. Immer ausgehungert, immer auf der Suche nach stärkeren Belohnungsreizen.

Welche Abhängigkeiten beobachten Sie am häufigsten?

Durch die Digitalisierung haben exzessives Gaming und pathologischer Pornokonsum stark zugenommen. Die Gaming-Abhängigkeit beobachte ich vorwiegend bei Jugendlichen, Pornosucht tritt überwiegend bei Männern auf.

«Likes auf Instagram gelten nicht umsonst als ‹modernes Heroin›».

Was ist mit den Frauen?

Frauen sind anfälliger für Abhängigkeiten, die mit sozialen Netzwerken und Shopping zu tun haben. Sie werden abhängig von positiven Feedbacks – nicht umsonst werden Likes auf Instagram auch als «modernes Heroin» bezeichnet.

Sie sagen, Pornosucht sei «epidemisch». Mit Verlaub, das ist doch Alarmismus …

Die Bezeichnung epidemisch mag übertrieben erscheinen. Tatsache aber ist: Die rasante Entwicklung digitaler Technologien und die leichte Verfügbarkeit sexueller Inhalte tragen zu einem grossen Anstieg von Fällen bei, die professionelle Hilfe suchen. Ich kann nur sagen, meine Praxis ist komplett voll.

Gibt es belastbare Zahlen?

Ich kenne Schätzungen für Deutschland. Diese gehen von einer halben Million Sex- und Pornosüchtiger aus – bei einer Gesamtbevölkerung von über 80 Millionen. Hinzu kommt eine ähnlich hohe Zahl indirekt betroffener Familienangehöriger.

«Ich werde sicherlich nicht arbeitslos»: Die Münchner Sexualtherapeutin und Buchautorin Heike Melzer.

Erfahren Sie in Ihrer Praxis noch Dinge, die Sie überraschen?

Ja, immer wieder. Neulich berichtete mir ein Klient, er habe mit 27 Personen Sex gehabt – in vier Tagen.

Sie betonen, dass unser Gehirn mit seinem Belohnungssystem sich seit der Steinzeit kaum verändert habe – wir aber heute von einer Flut digitaler Reize überwältigt würden. Wie können wir denn überhaupt unsere psychische Gesundheit bewahren?

Die Herausforderung ist tatsächlich enorm. Doch trotz unserer steinzeitlichen Gehirne müssen wir lernen, mit dem permanenten Reizstrom der digitalen Welt umzugehen. Aber es ist möglich, das Verhalten zu ändern: Im Silicon Valley setzen die Techpioniere überraschenderweise auf analoge Erziehung. Sie schicken ihre Kinder auf Schulen ohne Computer und Smartphones und in anthroposophische Kindergärten ohne digitale Hilfsmittel. Erst später bekommen die Kinder Zugang zu digitalen Medien. In Europa hingegen beobachte ich, wie Eltern und Bildungseinrichtungen unter dem Druck stehen, technologisch auf dem neuesten Stand zu sein, Stichwort «Digitalisierungsoffensive». Oft aber schiessen wir über das Ziel hinaus, indem wir Kindern zu früh zu viel Technologie in die Hand geben.

«Unsere steinzeitlichen Gehirne müssen lernen, mit dem permanenten Reizstrom der digitalen Welt umzugehen: Jugendliche an einem Gaming-Event.

Hinter der Reizflut stehen in der Regel wirtschaftliche Interessen, mit der Pornobranche etwa, mit Social-Media-Konzernen. Werden wir geradezu bewirtschaftet?

Ja, das sehe ich so, unsere Lebenszeit und unsere Gesundheit werden monetarisiert. Die Gewinner dieser Entwicklung verstehen es hervorragend, den Code des archaisch geprägten Belohnungssystems im Gehirn zu knacken. Wie schwer es ist, auf Youtube oder Instagram beim Scrollen von einem spannenden Video zum nächsten innezuhalten, weiss jede und jeder von uns.

Wie helfen Sie bei solchen Abhängigkeiten?

Ich baue Betroffene auf, stärke ihr Selbstbewusstsein, fördere Offenheit und Vertrauen. Dann ist Wissensvermittlung wichtig. Wenn ich weiss, wie mein Belohnungssystem funktioniert und wie ich durch Überkonsum abstumpfe und krank werde, kann ich leichter mein Verhalten ändern. Sucht geht mit Abwehrmechanismen einher, deshalb hilft das achtsame Hinschauen und Analysieren, zum Beispiel von Triggern oder von dahinterliegenden Gefühlen. Betroffene sind oft isoliert, der Besuch von Selbsthilfegruppen kann sehr unterstützen.

Welchen konkreten Rat geben Sie Eltern in Bezug auf Smartphone und Social Media?

Ich rate Eltern, dasselbe zu tun, was ich tue. Es ist wichtig, Kindern ein gewisses Mass an Autonomie zu gewähren, aber gleichzeitig klare Grenzen zu setzen und Regeln aufzustellen. Meine 14-jährige Tochter besitzt ein Smartphone, jedoch habe ich deutlich gemacht, dass ich es dreimal im Jahr unangekündigt überprüfe. Dabei respektiere ich ihre Privatsphäre und habe kein Interesse an jedem Detail ihrer Nutzung. Dennoch ist es mir wichtig, einen Überblick zu behalten und sicherzustellen, dass sie verantwortungs­bewusst mit Apps und sozialen Medien umgeht.

Sie verbieten Ihrer Tochter also den Zugang zu bestimmten Social-Media-Apps?

Genau, Plattformen wie Instagram und Tiktok, die ich als «Aufmerksamkeits­fragmentierungs­maschinen» betrachte, sind bei uns tabu. Ich setze auf bewusste Mediennutzung und möchte vermeiden, dass meine Tochter zu früh mit Inhalten konfrontiert wird, die nicht altersgerecht sind.

«Frauen sind anfälliger für Abhängigkeiten, die mit sozialen Netzwerken und Shopping zu tun haben»: Jugendliche Smartphone-Nutzerin.

Weshalb schaffen es viele Eltern nicht, ihren Kindern klare Grenzen zu setzen?

Eltern sind oft selbst betroffen, selbst in einer Abhängigkeit gefangen. Oder sie sind sich der Gefahren nicht ausreichend bewusst. Dabei ist das Setzen von Grenzen eine Kernaufgabe von Eltern. Mütter und Väter fühlen sich in einer sich ständig verändernden Umwelt zusehends überfordert – und kommen dieser Aufgabe nicht nach.

Müsste nicht der Gesetzgeber Kinder besser schützen?

Die Realität der digitalen Welt stellt uns vor enorme Herausforderungen. Jugendliche können mit wenig Aufwand Zugang zu gesperrten Inhalten erlangen, sei es durch die Nutzung von VPNs, um geografische Beschränkungen zu umgehen, oder durch den Zugang zum Darknet, wo selbst Waffenkäufe möglich sind. Die technologischen Möglichkeiten machen es extrem schwierig, effektiven Schutz zu gewährleisten.

Was werden in zehn Jahren die grossen Probleme der Sexualtherapeutinnen und -therapeuten sein?

Womöglich ist all das, was wir derzeit erleben, nur ein Vorgeschmack von den Problemen, die noch auf uns zukommen. Wir werden noch stärkeren Reizen ausgesetzt sein, denken wir nur schon an die Pornografie, die sich neue virtuelle Optionen erschliessen wird. Die Welt wird deshalb nicht untergehen, aber es wird noch schwieriger werden, aus der Fülle das Richtige auszuwählen. Wahrscheinlich noch mehr Menschen als heute werden dies allerdings nicht schaffen, sondern feststellen, dass sie ihre Gesundheit und ihre Lebenszeit in einer Reizekstase verfeuert haben. Was sicher ist: Ich werde sicherlich nicht arbeitslos.

Heike Melzer: Versteckte Köder – Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien. Hanser 2024. 256 S., ca. 40 Fr.