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Psychologie im OnlinezeitalterPornozwang und Profilsucht – digitale Neurosen und wie man sie loswird

«Die Identität im Netz ähnelt dem spiegelnden Teich, in dem der mythologische Narziss sich selbst betrachtet»: Worte des Therapeuten Johannes Hepp, im Bild die Schweizer Influencerin Jennifer Jeketa.

Der Mann war Sportschütze und hätte sich beinahe selbst erschossen – aus zwanghafter, paranoider Eifersucht.

IT-Fachmann von Beruf, hatte er seine Freundin in der gemeinsamen Wohnung mit Mikrofonen, Kameras und Temperatursensoren überwacht, immer in der Angst, sie würde ihm untreu werden. Schliesslich schloss er, schon halb im Wahn, aus einem im Schlafzimmer von Sensoren protokollierten Temperaturanstieg, seine Partnerin habe ihn mit einem anderen Mann im Doppelbett betrogen. Denn für mittags um zwölf zeigten seine Daten eine um vier Grad höhere Temperatur als üblich – an einem Tag, an dem er auf Dienstreise war. Das schien ihm Beweis genug für einen Seitensprung.

Aber irgendwie schaffte er es, seine Waffe doch nicht auf sich selbst zu richten. Er suchte vielmehr nach Hilfe und klopfte an die Tür der Praxis von Johannes Hepp, Psychoanalytiker und Buchautor in München. «Das war die erste digitale Neurose, die ich behandelte», sagt Hepp im Gespräch. Und fügt an: «Jedes Jahr werden es mehr.»

Die Smartwatch für «metrische Neurotiker»

Der Seelenfachmann mit Jahrgang 1969 muss es wissen. «Die Psyche des Homo Digitalis» nennt er sein kürzlich erschienenes Buch, in dem er auf über 400 Seiten 21 Neurosen auflistet und analysiert, die «uns im 21. Jahrhundert herausfordern».

Digitale Neurosen? Was soll an Neurosen, wörtlich «Nervenkrankheit», seit Sigmund Freud als seelische Störung bekannt, neu sein? Und was erst digital?

«Sicher, die Neurosen an sich sind nicht neu», sagt Hepp, «ihre Auslöser allerdings oft schon – und die digitalen Mechanismen, welche die Störungen befeuern, ebenfalls.» Der Fall des Sportschützen sei nur ein Beispiel dafür, wie Netztechnologie und Digitallifestyle ein neurotisches Verhalten entstehen lassen, um es schliesslich in eine destruktive Obsession zu verwandeln.

Der Zwang zum Messen und Datensammeln ist die «metrische Neurose»: Self Tracking beim Sporttreiben mit einer iWatch.

Hepp fasst den Begriff der Neurose sehr weit, das räumt er ein. In seiner Praxis kämpfe er als Therapeut gegen Abhängigkeiten, Süchte, Kontrollzwänge, Ängste, verzerrte Körperbilder oder sexuelle Frustrationen. Dabei blickt er in die Abgründe von uns Online-Existenzen. «Gegenwartsneurosen» nennt Hepp diese Störungen auch, letztlich alle eine «Überkompensation» der psychischen Belastung durch die Digitalwirtschaft.

Es kommt ein eindrücklicher Katalog des digitalen Zwangsverhaltens zusammen. Der exzessive Konsum von Onlinepornografie, die Pornosucht also. Oder das Verhaltensmuster, das Hepp die «Profilneurose» nennt: die neurotische Abhängigkeit vom eigenen Profil im Netz und vom Erfolg dieser Selbstinszenierung auf sozialen Plattformen. Hinzu kommt der Einzigartigkeitszwang, das krankhafte Bestreben, etwas Besonderes zu sein. Das virtuelle Profil, die Identität im Netz, so schreibt Hepp, «ähnelt dem spiegelnden Teich, in dem der mythologische Narziss sich selbst betrachtet».

Eigenständiger wird Hepps psychotherapeutische Diagnose des Gegenwartsmenschen dann, wenn er vom Zwang zu Rankings und Bewertungen schreibt und der zugrunde liegenden Steigerungslogik («metrische Neurose»). Oder wenn er die «Erfahrungsgier» analysiert («immoderate Neurose»), deren Gefährlichkeit in der Masslosigkeit liegt, mit der sich der Homo Digitalis seinen Wünschen und Fantasien, seinem Begehren hingibt. Eine Masslosigkeit, an der deshalb so viele kranken, weil die digitale Gesellschaft mit ihrem scheinbar unbegrenzten Angebot an Optionen es dem Menschen so schwer macht, masszuhalten.

Hepp hat keine wissenschaftliche Studie geschrieben, er ist der Praktiker und berichtet im wörtlichen Sinne aus der Praxis. Die Mehrzahl seiner Klientinnen und Klienten sind junge Erwachsene, Frauen und Männer zwischen 18 und 28 Jahren. In dieser Altersgruppe sei die Dating-Neurose die häufigste Störung: das unkontrollierte Bedürfnis nach rauschhafter Verliebtheit, das ein Engagement für eine dauerhafte Liebesbeziehung verunmögliche. Gepaart sei dieses Zwangsverhalten bezeichnenderweise häufig mit einer generellen Angst, etwas zu verpassen – sei es eine Begegnung, eine ungewöhnliche Erfahrung oder ein prestigeträchtiges Ereignis. Diese «Fear of missing out», kurz Fomo, sei bereits zu einer Art Lebensgefühl geworden in der Generation der jungen Erwachsenen. «Fast sieben von zehn Millennials geben heute in Studien an, unter Fomo zu leiden», sagt Hepp. 

Die Pandemie zeigte: Die Virtualisierung bekommt der Seele des Menschen nicht.

Bei den älteren und den alten Patientinnen und Patienten begegnet der Therapeut häufig der «Isolationsneurose», wie er sagt, das heisst Menschen, die sich trotz aller Vernetztheit und virtueller Präsenz im Netz nicht aus der eigenen Einsamkeit zu befreien vermögen. Schliesslich ist da noch die «Verbitterungsneurose», die offenbar immer öfter am Lebensende des digitalen Menschen steht, insbesondere bei Männern: das krankhafte Kreisen um sich selbst und das Trauern um verpasste Möglichkeiten. Wer darunter leidet, so Hepp, «nimmt das Selbstmitleid ins Grab».

Zugegeben, die Befunde des Münchner Therapeuten lösen keine grosse Zuversicht aus, was das Seelenwohl der heutigen Gesellschaft anbelangt. Neuste Gesundheitszahlen scheinen indessen seine Sicht zu stützen. In Deutschland lag im Jahr 2022 der Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche immer noch rund 60 Prozent über dem Niveau von vor der Pandemie; bei den Erwachsenen vermeldet die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung einen Wert von 40 Prozent. Zur Situation in der Schweiz berichtet die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), dass die Nachfrage bei den Erwachsenen «eher zunehme». «Stark angestiegen» sind die Fallzahlen in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Maschinen ersetzen Menschen, eine Ursache für das Auftreten der «Isolationsneurose»: Pflegeroboter in einem Altersheim.

Für Hepp ist klar: «Wir erlebten mit der Pandemie ein Massenexperiment. Es ist deutlich geworden, dass die Virtualisierung des Lebens unserer Psyche nicht bekommt.» Der Verlust an tatsächlichen Kontakten, die Verlagerung von Erlebnissen und Erfahrungen in den digitalen Raum, sei für Kinder und Jugendliche besonders schädlich, da sie im Gegensatz zu Erwachsenen nicht auf einen grossen Fundus real erlebter Ereignisse zurückgreifen könnten.

Der Entzug von sozialen Interaktionen, der Verlust von Begegnungen und Berührungen, wird in der Medizin und der Psychologie Hospitalismus genannt. Wenn Menschen etwa in Spitälern und Heimen vernachlässigt werden, können körperliche, emotionale und soziale Schäden entstehen. Mit der fortschreitenden Virtualisierung der Lebenswelt nehmen tatsächliche Begegnungen und Berührungen zwangsläufig ab – und damit seien ähnliche negative Folgen zu befürchten wie beim Hospitalismus, argumentiert Hepp.

So ist sein Homo Digitalis womöglich der bislang neurotischste Homo sapiens überhaupt. Ein Super-Neurotiker. Entkörpert, ausgewandert in den Cyberspace, andauernd überfordert von der rasanten Entwicklung, die er selbst losgetreten hat. Für den Therapeuten Hepp gibt es im jüngeren Zivilisationsprozess diese eine Zäsur: 2007 – das Jahr, in dem das Smartphone auf den Markt kam, das iPhone, diese ortsunabhängigen Schnittstellen zur digitalen Welt. «Der Mensch ist für Veränderungen in diesem Tempo nicht gemacht», sagt Hepp, «das ist nichts für biologisch-genetische Anpassungsprozesse.»

Selbstironie als Heilmittel

Hepp belässt es in seinem Buch nicht nur bei Befunden, sondern bemüht sich auch um Lösungsansätze und Empfehlungen. Ein bewussterer Umgang mit digitalen Medien, das Setzen von Prioritäten und Grenzen sowie das Pflegen von echten, zwischenmenschlichen Beziehungen.

Ebenso spricht Hepp die Bedeutung der Selbstreflexion an. Die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen und zu akzeptieren helfe, sich vom Druck zu befreien, mit anderen mithalten zu müssen. Zur Selbstreflexion gehöre auch die Selbstironie, meint Hepp, «dieser lebenserprobte Realismus, wie ich es gern nenne, ist der Weg heraus aus der Neurose».

Das alles sind keine neuen Rezepte. Aber andere gibt es wohl schlicht nicht.

Übrigens: Der abnorm eifersüchtige Sportschütze, Hepps erster Klient mit einer digitalen Neurose, hatte sich geirrt. Seine Partnerin war ihm treu gewesen, sie hatte ihn an dem Tag mit dem rätselhaften Temperaturanstieg im gemeinsamen Schlafzimmer nicht betrogen.

Doch der Sportschütze verlor sie trotzdem. Als die Frau erfuhr, mit welcher Spionagetechnik ihr Lebenspartner das gemeinsame Haus verwanzt hatte, zog sie aus. Mit den Worten, das alles sei kein Smarthaus. Sondern eine beschissene Stasizentrale.

Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis – 21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern. Wie wir unsere psychische Widerstandskraft stärken und heil durch den digitalen Dschungel finden. Kösel, 416 Seiten, ungefähr 22 Franken.