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Städtereise: TiranaMan kommt heim und nervt alle, weil man so verknallt ist

Tirana ist vielschichtig: Vorn Nationalheld Skanderbeg, hinten eines der nagelneuen Hochhäuser. Und dazwischen ein (aufgehübschter) Bau aus der kommunistischen Ära.

Am Zmorgenbuffet gehts schon los. Da lacht einen das cremig-würzige, sanft rosa Fërgesë – eine Art Tomaten-Peperoni-Auflauf – aus seiner Gratinform heraus an; unmöglich, sich nicht einen grossen Löffel voll rauszuschöpfen. Und dann noch einen. Daneben diese geradezu unverschämt aromatischen Oliven, bestreut mit weissem Sesam. Kein Konfibrot hat eine Chance gegen die balkanische Herzhaftigkeit mit ihren italo-griechisch-türkischen Einflüssen. 

Ja, man startet gut in den Tag in Tirana. Dabei ist die Hauptstadt Albaniens keineswegs das, was man einen Touristenmagneten nennt. Dafür ist sie nicht hübsch genug. Bloss: Sie nimmts mit Humor – und wickelt jeden, der sie besucht, in null Komma nichts um den Finger. Wie, dazu kommen wir noch, aber an dieser Stelle schon mal rasch eine Warnung: Es ist möglich, dass Sie ein bisschen baff vom Charme dieser Stadt in den Flieger zurück nach Hause steigen und den Daheimgebliebenen mit Ihrer Schwärmerei recht bald auf die Nerven gehen werden. Wer selbst noch nie da war, wird zweifelnd die Augenbrauen hochziehen («Tirana? Wirklich!?»), wer aber schon war, wird sofort auch in den Begeisterungsmodus schalten: Die Leute! Das Stadtbild! Die Leichtigkeit! Wenn das Wort nicht so ausgelutscht wäre, man würde wohl von Lebensfreude sprechen. 

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Kurzum: Tirana vibriert. Vor Lust am Neuen, am Plötzlich-Möglichen. Um das zu verstehen, muss man kurz zurückblenden: Vor 30 Jahren fing man hier praktisch bei null an, als der kommunistische Diktator Enver Hoxha tot und seine Partei am Ende war. Was deren Terrorregime hinterlassen hatte, war ein Volk, das jahrzehntelang nicht hatte glauben, sagen, lernen dürfen, was es wollte. Ein Land, in dem sogar der Beruf für einen ausgesucht und der Besitz der falschen Bücher mit Gefängnis bestraft worden war. In dem gefoltert, gemordet und kontrolliert worden war, ob man das vorgeschriebene Hoxha-Porträt an der Stubenwand auch schön regelmässig abstaubte.

Kontakt ins Ausland? Gabs nicht. Einreisen durfte nur, wer sich am Flughafen einen strammen Kurzhaarschnitt verpassen liess. Derart Angst hatte der Diktator vor allem, was von aussen in sein hermetisch abgeschottetes Reich kommen könnte, dass er Bunker im ganzen Land errichten liess. Unfassbare 170’000 Stück insgesamt. Kein Land der Welt hat es je auf mehr Bunker pro Quadratmeter gebracht. (Heute stehen noch ein paar Tausend; auf dem Land versorgen Bauern ihre Gerätschaften darin, in der Stadt werden sie auch mal zu Kunstgalerien oder Bars umfunktioniert.) Albanien, das war das Nordkorea Europas, und als es endlich vorbei war, blieb ein traumatisiertes Land zurück – und wachte ein zur Unmündigkeit erzogenes Volk aus einem langen, langen schlechten Traum auf. Mit Tirana als Herz, das trotz allem noch schlug. 

Nennt es kitschig, aber: Die Leute hier wissen, wie man Spass an den kleinen Dingen hat. Und das ist ansteckend.
Ui! Coca Cola wäre zu Diktator Hoxhas Zeiten natürlich streng verboten gewesen.

Und jetzt? An allen Ecken wird gebaut wie verrückt, im Grunde ist die Stadt eine einzige Baustelle. Das Hotel, in dem wir einchecken, ist seit gerade mal fünf Tagen offen; es wurde in einem Teil der Stadt platziert, wo vor wenigen Jahren nur ein bisschen Industrie stand. Bald, so sagt man uns, wird es ein begehrter Stadtteil sein. Die Einwohnerzahl Tiranas hat sich von 200’000 (Anfang 1990er) auf über eine Million verfünffacht; es geht so schnell, dass sie mit Zählen kaum nachkommen. Man schätzt, dass jeder dritte Albaner heute in oder rund um die Hauptstadt lebt. Und klar: Die Mieten, die haben sich ebenfalls vervielfacht. 

Im Zentrum schiesst zwischen den langsam vor sich hin zerfallenden Blöcken Futuristisches in die Höhe. Noch unbewohnt, glimmt das gelbgold verputzte Hotel Intercontinental in der Sonne – direkt hinter dem in den 1970ern gebauten «International», auf das der Diktator so stolz war; es ist, als wolle der goldene Turm den grauen Würfel in seiner Mickrigkeit vorführen. Überhaupt, all die Hochhäuser: Gerade fertig geworden sind der grün-blaue Alban Tower und der Downtown One, dessen Balkone so angeordnet wurden, dass sie aus der Ferne betrachtet die albanischen Landesgrenzen nachzeichnen. Am zentralen Skanderbeg-Platz entsteht ein Hochhaus in der Form einer riesigen Büste des gleichnamigen Nationalhelden. Unkonventionell und verspielt ist das alles. Kein Wunder: Nach Jahrzehnten rigid-kantiger Regimearchitektur herrscht ein gewisser Nachholbedarf. 

Unlängst wurde auch das neue MET Building von seinen Baugerüsten befreit: eine Science-Fiction-Version des Kolosseums, schneeweiss – und bald von oben bis unten bepflanzt. Das Grünzeug fehlt noch, aber die Stadt ist auch so schon überraschend grün. Es gibt Parks, in denen fleissig gepicknickt wird, die Boulevards sind von Bäumen gesäumt, zudem liegt die Stadt eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln. Auf den höchsten davon, den Dajti, fährt eine Gondelbahn hoch; nach 20 Minuten landet man auf 1600 Metern, wo ein Spielplatz und ein paar Schiessbuden das etwas unmotivierte Unterhaltungsangebot darstellen; der Kaffee in der Gipfelbeiz ist auch keine Offenbarung, aber die Aussicht ist grandios. 

Wenn der Skanderbeg-Platz das Herz von Tirana ist, dann wird die Stadt derzeit gewissermassen am offenen Herzen operiert: Rund um den Platz wird gebaut, als gäbs kein Morgen. Der grau gestreifte Würfel vor dem noch nicht eröffneten goldgelben Hotel Intercontinental, das Hotel International, war in den 1970ern das höchste Gebäude des Landes. Das blau Eingerüstete daneben wird mal ein Hochhaus in Gestalt einer Büste des albanischen Nationalhelden Skanderbeg.
140 Meter hoch, 37 Stockwerke: Downtown One (entworfen vom niederländischen Architekturbüro MVRDV) ist aktuell das höchste Gebäude Albaniens. Die Balkone sind so angeordnet, dass sie aus der Ferne betrachtet die albanischen Landesgrenzen nachzeichnen.
Das MET Building (von Mario Cucinella Architects) ist mal grob fertig gebaut. Was jetzt noch fehlt: Tausende von Pflanzen, die den Bau in einen vertikalen Garten verwandeln werden.

Dass man unterwegs nach oben durch die zerkratzten Plexiglasscheiben auch den einen oder anderen illegalen Müllhaufen entdeckt, gehört zur Kehrseite des rasanten Aufholungsspurts dieser Stadt. Die Verwaltung kümmere sich drum, heisst es; aber sie müsse halt Prioritäten setzen. Und so leuchtet bei manchen Ampeln statt des regulären Rundlichts ein kleines «t» (für Tirana) – Überbleibsel von 2022, als die Stadt «European Youth Capital» war. Bei manchen Lichtsignalen springt gar der ganze Pfahl von Rot auf Grün, um so die Kids für die dahintersteckende Technik zu interessieren. Wozu das? Albanien ist eines der demografisch jüngsten Länder Europas. Hier schlummert ungeheures Potenzial. Für das erklärte Ziel der Regierung, dereinst 25 Prozent der Wirtschaftsleistung aus der Techbranche zu generieren, gilt es, Fachkräfte schon im Vorschulalter zu akquirieren – zum Beispiel eben durch Ampeln mit Ganzkörpereinsatz. 

Oder mit kostenlosen IT-Kursen – die in der Pyramide stattfinden, dem wohl trotz all der verrückten Bauerei noch immer skurrilsten Bauwerk der Stadt. Diktator Hoxha hatte sich das UFO-artige Ding einst als Mausoleum gewünscht. Es kam anders. Nach seinem Tod verscharrte man ihn auf einem unbedeutenden Friedhof; in sein leeres Prunkgrab zog derweil während des Kosovokriegs die Nato ein und später der Nightclub «The Mummy» (was sonst, wenn nicht eine Mumie, soll in einer Pyramide hausen?), tagsüber rutschten Teenies die glatten Marmorschrägen runter.

Das dringend nötige Make-over war erst im Herbst 2023 vollendet, und man muss sagen: krass gelungen! Der Marmor erstrahlt wie nach einem Javel-Waschgang, Treppen führen nun hoch auf die Spitze, wo Touristen und Einheimische fleissig Selfies schiessen. Kleine boxenförmige Pavillons in allen Farben des Regenbogens wurden zu Füssen der Pyramide verteilt, in die Start-ups und Ateliers und sonstige Hipster eingezogen sind. In der Abendsonne, mit einem mitgebrachten Drink in der Hand, ist man versucht, hier den wohl chilligsten Ort Tiranas zu verorten. Wenn je einem Symbolbau so richtig die Dämonen ausgetrieben worden sind, dann diesem. 

So sah die «Piramida» von Tirana aus, kurz bevor man sie zu renovieren begann.
Und so sieht sie heute aus. Ziemlich krasser Vorher-nachher-Effekt, oder? Hinter dem Make-over stecken die Architekten von MVRDV – dieselben, die auch das Downtown One gebaut haben und aktuell noch am Skanderbeg-Hochhaus sind.

Und wo feiern jetzt die Teens und Twens? Ein paar Strassen weiter, im Blloku-Quartier, dort, wo früher der Diktator und seine Schergen wohnten, vom Rest der Genossen getrennt durch Stacheldraht und bewaffnete Aufpasser. Die Villen beherbergen heute Botschaften, auch jene, über der ein weisses Kreuz auf rotem Grund weht; dazwischen haben sich die angesagtesten Bars der Stadt angesiedelt. Ein kurliger Mix. 

Wer danach ein Taxi oder einen der (tipptopp funktionierenden, viel günstigeren!) Linienbusse zurück ins Hotel nimmt, fährt nochmals am Hauptplatz mit Skanderbeg hoch zu Ross vorbei, dem Fürsten und Heerführer, der einst den Osmanen wacker entgegengetreten war. Schlussendlich zwar ohne Erfolg, aber mit grossem Nachhall: Skanderbeg hat es zum christlichen Nationalhelden in einem Land gebracht, in dem zwei Drittel muslimisch sind. Zumindest auf dem Papier. Bekopftuchte Frauen muss man im Stadtbild regelrecht suchen. 

Typisch Tirana: Da prallen Welten aufeinander. Im Vordergrund die Neue Moschee, hinten das Downtown-One-Hochhaus. Beide wurden letztes Jahr fertiggestellt.
Albanien hat um die 270 Sonnentage pro Jahr. Das schmeckt man auch: Die Früchte und Gemüse sind sensationell.

Skanderbegs Helm begegnet einem derweil alle paar Strassenkreuzungen: als Logo der bekanntesten Tankstellenkette des Landes. War im Kommunismus der Besitz eines Privatautos verboten gewesen – stattdessen war man mit Pferdekarren und Velos unterwegs –, holt man mit der neu gewonnenen Freiheit nach, was man so lange entbehren musste: «Gleich nach der Wende nahmen wir das Auto sogar, um Brötchen beim Bäcker zu holen, auch wenn der nur ein paar Häuser weiter weg war», erzählt uns der Taxifahrer Alman lachend. Strassen wurden im Expresstempo gebaut, «jetzt kommst du in vier Stunden von Tirana nach Gjirokastra, früher brauchte man mehr als einen Tag dafür, das war wie in Kandahar!»

Dafür stand auch niemand im Stau. Nun hingegen sind die Hauptachsen der Hauptstadt nicht nur zu den Stosszeiten verstopft, sondern auch mal spontan mitten am Tag. Die Stadtregierung hat das Problem erkannt und schickt die Schulkinder in die obligatorische Velofahrschule; Radwege werden gebaut, Busse und Taxis mit Elektromotoren ausgestattet. «Der Bürgermeister», sagt Taxifahrer Alman, «hat gesagt, der öffentliche Verkehr in Tirana solle so gut werden, dass die Leute das Auto freiwillig in der Garage lassen.» Das könnte aber noch dauern. Wer durch die Hauptstadt fährt, liest an jeder Ecke «Gomisteri» (Pneuhändler) und «Lavazh» (Autowäsche).  

Einer von etwa 20’000 noch erhaltenen Bunkern, die im ganzen Land verteilt sind. In diesem hier, direkt hinter dem Rathaus (der gelb-weisse Bau rechts), finden etwa zwölf Menschen Platz. Heute ist darin Kunst ausgestellt.
Was Bauwerke anbelangt, hat Tirana sehr Unterschiedliches zu bieten. Der begeh- und bekletterbare «Cloud Pavilion» des japanischen Künstlers Sou Fujimoto entstand ursprünglich für die Serpentine Gallery in London – und kam 2016 als Geschenk nach Tirana.

Albanien ist in Europa angekommen, auch wenn es noch auf der Warteliste für die EU steht. Das merkt man am Tempo, am Verkehr und an den Küsten, wo Hotelzimmer plötzlich zu Mangelware geworden sind. «Letztes Jahr», erzählt Alman, «fand man im Sommer kein Bett mehr am Meer.» Investoren (teils auch zwielichtige, wird gemunkelt) wittern das schnelle Geld; erst kürzlich wurde bekannt, dass Trumps Schwiegersohn Jared Kushner an der Küste Albaniens Hotels bauen will. Erdbebensichere, wohlgemerkt; 2019 hatte das letzte grosse Beben Dutzende Tote gefordert. Das Mosaik auf der Fassade des aus dem Kommunismus stammenden Nationalmuseums von Tirana – eine Handvoll Arbeiter und Bauern und Soldaten, die entschlossenen Schrittes nach vorn schreiten – wurde beschädigt; die Restaurierung hat die EU mitfinanziert. Das Grüppchen Unerschrockener strebt jetzt wieder unbehelligt nach vorn – wenn auch in eine ganz andere Zukunft, als sich die Erbauer das einst vorgestellt hatten. 

Diesen Sommer wird Albanien an der Fussball-EM teilnehmen. «Wir haben eine schwierige Gruppe erwischt», meint Almar, «aber wer weiss: Wir sind als Gruppenerster aus der Quali hervorgegangen. Es läuft gerade gut für uns.» Man schaut raus auf das vom Mond und vom Neonlicht beschienene Tirana und denkt: Ja, das tut es.

Die Reise wurde unterstützt von Accor / Mercure Hotel Tirana.