Im Stechschritt ins Museum

Nicolas Righetti in Weissrussland: Bilder aus der Traumwelt des Poststalinismus.

Minsk, die Hauptstadt von Weissrussland, ist der zum Museum erstarrte Stalinismus. Monumental die Gebäude, dynamisch die Denkmäler. Alles strebt nach oben, nach vorne. Der Wind weht im Haar, und der Stechschritt ist Symbol einer unaufhaltsamen, vom Volk, von der Armee und einer veralteten Technik verkörperten Macht.

Minsk bringt den Stalinismus in dem Stadtbild so sauber renoviert auf den Punkt, dass die Unesco all die Bauten im Zentrum der City als Weltkulturerbe unter Schutz stellen wollte. Darauf hätten die Bewohner aber wohlweislich verzichtet, berichtet Nicolas Righetti in seinem Bildband «Biélorussie, Dreamland».

Des Öfteren hatte der Lausanner Fotograf Weissrussland besucht. Im Herbst 2018 bereiste er aber erstmals das Land in Begleitung eines weissrussischen Fremdenführers. Das Resultat ist beeindruckend: Righetti schiesst Fotos, die den Weissrussen gefallen, weil sie ihrer Sehnsucht nach Grösse, Stärke und Schönheit entsprechen.

Seine Bilder sind aber zugleich messerscharf, weil sie die Absurditäten des poststalinistischen Traums gekonnt demaskieren. Da posiert etwa die junge Frau im Sommerkleid vor der Zwillingsdüse eines ausrangierten Jets, wie wenn sie sich auf dem Laufsteg befände. Da lehrt ein Soldat einem Jungen das Schiessen, wie wenn es beim Kriegshandwerk ums Theaterspielen ginge.

Wir sehen Massenaufmärsche und bunte Feuerwerke, Panzer- und Flugzeugwracks, Denkmäler und Heldengemälde: Der Militarismus, der fast jedes Bild durchdringt, ist faszinierend und abstossend zugleich. Und einmal öffnet sich der Blick von «Biélorussie, Dreamland» in eine von sowjetischen Cabriolets befahrene Sehnsuchtswelt, die wie das ganze Land in den Siebzigerjahren stecken geblieben ist.

Bielorussie_Dreamland_Cover

«Bielorussie, Dreamland»

Nicolas Righetti
Éditions Favre Lausanne 2019.
ca. 48 Franken

13 Kommentare zu «Im Stechschritt ins Museum»

  • Peter Manz sagt:

    Belarus ist mit seinen vielseitigen Facetten für Besucher aus dem Westen ein äusserst interessantes Land: Neben der für uns oft kurios anmutenden Sowjet-Atmosphäre, die sich in der Stadt überall als ganz alltäglich zeigt, besticht das Land auch mit seinen wasserreichen Naturlandschaften und Wäldern, wie man sie im übrigen Europa ausser in Nordskandinavien kaum noch vorfindet: Ein Paradies für Veloreisende, wie ich es 2 Wochen lang (und wohl nicht zum letzten Mal) geniessen konnte! Dass die protzige Architektur und die wuchtigen Glorifizierungs-Denkmäler gleichzeitig faszinerend und abeschreckend wirken können, erschreckt mich aber selber auch immer wieder . . . .

  • Max Schmid sagt:

    An die begeisterten Kommentatoren hier: Wenn Sie mit den Widrigkeiten einer freien und toleranten Gesellschaft nicht klar kommen, dann hält Sie nichts zurück, sich in Weissrussland niederzulassen. Es scheint ja ein wahres Schlaraffenland zu sein, wo alle glücklich und zufrieden sind und genau so denken und leben wollen, wie es der Staat vorschreibt…äh vorlebt.

    • Monika Ammin sagt:

      @Schmid
      In Weissrussland ist man viel freier als in der Schweiz. Denn man darf frei sagen, was man denkt. Hier liegen die Schweiz und Weissrussland gleichauf. Aber die Sicherheit im öffentlichen Raum ist in Minsk viiiiiiiel besser als in jeder Schweizer Stadt. Stellen Sie sich vor, in Minsk können junge Frauen auch abends alleine nachhause oder spazierengehen, ohne belästigt, überfallen und vergewaltigt zu werden.
      Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. In der Schweiz versagt in diesem Bereich der Staat zunehmends, in Weissrussland erfüllt er seine Aufgabe.

  • Deduschka sagt:

    Ach ja und noch etwas: Mädchen wollen dort noch Mädchen sein, Buben sind Buben, Frauen sind Frauen und Männer sind Männer. So was gibt’s tatsächlich auf dieser Welt noch.

    • Hans Huggentobler sagt:

      Was sollte das jetzt heissen? Lange haare und Röckli = Mädchen, Kurze Haare + Gewehr = Bub? Wenn man sich gerne in eindimensionalen Klischees tummelt, ist das sicher so.

      • François Peters sagt:

        @Hugentobler
        „Lange haare und Röckli = Mädchen, Kurze Haare + Gewehr = Bub?“
        Genau. Völlig richtig. Und das ist dann eben nicht eindimensional, sondern perfekt zweidimensional. Eindimensional ist der Versuch der Verwischung und Verwaschung der Geschlechter zu einem undefinierbaren Einheitsbrei.

  • Thomas Wünsch sagt:

    Mir hat Weissrussland sehr gut gefallen. Das Land ist sauber und das mit Abstand sicherste in ganz Europa. Man findet dort nicht, wie sonst häufig in Mitteleuropa, Armut, Zerfall und Dreck. Weissrussland ist deutlich sauberer als sogar die Schweiz.
    Dass die schönen sowjetischen Gebäude und Denkmäler die Besucher faszinieren, ist klar. Sie sind ja wirklich ästhetisch sehr ansprechend und imposant.

    • Tanja sagt:

      Stimme zu, war nur in Minsk, aber: sauber, sicher, sehr freundliche, anständige und hilfsbereite Leute, keine lärmenden Jugendlichen in Bahn oder Bus mit Lautsprechern. Als Frau fühlte ich mich hier sicherer als in manch einer Schweizer Stadt!

      • Josef Felder sagt:

        Schöner ist es nur noch in Nordkorea: Auch dort alles glückliche Menschen, die andern sieht man nicht mehr.

  • Fritz sagt:

    Dass sind noch Menschen! Nicht so wie bei uns nur noch Kaputte Händy Leichen….!!! Medien gesteuerte Monster!

    • Hans Huggentobler sagt:

      Uii… Bilder angeschaut? Ich sehe mindestens 5 Bilder mit Handy-Leichen drauf. Aber die eigene Sehnsuchtswelt hat schon immer die Reale verdrängt.

  • Georg sagt:

    Die Fotos und eine sachliche Beschreibung hätten gereicht. Ich kann mir selber eine Meinung bilden und benötige keinen Missionsdienst, auch nicht vom Tagesanzeiger.

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