Er wartet, bis das Tier sein Bild vollendet

Haben Vögel ein Lebensgefühl? Und kann man es fotografieren? Jean-Luc Mylayne tut genau das. Seit vierzig Jahren.

«N° 341, Avril Mai 2005», 153 × 153 cm. © Jean-Luc Mylayne

Irgendwo ist immer einer, auf jedem Bild. Man muss ihn nur finden, den Vogel. Zwar kommt es vor, dass er gesehen werden will. Dann sitzt er zuvorderst auf dem Baum und leuchtet rot in seiner Pracht wie eine gefiederte Weihnachtskugel. Doch auf dem nächsten Bild duckt er sich ins Zwielicht eines Gestrüpps, und man muss sich zuerst ans Halbdunkel in dieser Zone des Bilds gewöhnen, bevor man den Unterschied zwischen Zweigen und Federn bemerkt. Und dann das schwarze Schimmern seines Auges. Ein andermal hat er es eilig und hinterlässt lediglich ein schattenhaftes Schema auf einer verputzten Mauer. Oder einen flimmernden Fleck in der Luft. Und manchmal findet man ihn dann doch mit dem allerbesten Willen nicht.

«N° 96, Août 1990 à Décembre 1991», 128 × 128 cm. © Jean-Luc Mylayne

Hinein also ins Bild. Besser: in den Raum. Natürlich haben auch die Fotografien von Jean-Luc Mylayne nur zwei Dimensionen. Doch eine halbe kommt dazu, weil er seine Bilder so komponiert, dass sie den Blick in Bewegung bringen; vom Vordergrund zum Hintergrund, vom Detail zum Ganzen zum Detail, einen Zaun entlang, über eine Gartenwiese, einen Baumstamm hoch. Ergebnis: ein frappantes Gefühl von Räumlichkeit. Und dazu tragen auch die merkwürdigen Verschwommenheiten in manchen Bildpartien bei. Sieht der Vogel so die Welt? Sehen wir, was ihm ins Auge fällt? Sicher ist: Mylayne erzeugt diesen Effekt mit speziellen Linsen in der analogen Kamera. Und spätestens jetzt erkennt man die Raffinesse dieser Fotos, die zunächst banal und beiläufig aufgenommen wirken. Man kann erstaunlich viel Zeit in diesen Bildräumen verbringen.

«N° 450, Janvier Février Mars 2007», 183 × 228 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 117, Juin 1991 à Août 1992», 128 × 128 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 368, Février Mars 2006», 123 × 153 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 96, Août 1990 à Décembre 1991», 128 × 128 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 476, Décembre 2006 à Mars 2007», 190 × 153 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 337, Avril Mai 2005», 153 × 153 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 446, Novembre 2006 à Janvier 2007», 183 × 183 cm. © Jean-Luc Mylayne

«N° 524, Février Mars Avril 2007», 228 × 183 cm. © Jean-Luc Mylayne

Fehlt aber immer noch: der Vogel. Dabei dreht sich Jean-Luc Mylaynes künstlerisches Schaffen nur um ihn, und das seit vierzig Jahren – der Franzose fotografiert nichts anderes, in der heimischen Provinz wie in den USA. Doch während klassische Naturfotografie die Tiere wie Statuetten oder Präparate zeigt, als Schaustücke und Prototypen einer Spezies, sieht man die Vögel hier mitten in ihrem Alltag. Wenn diese Kreaturen so etwas haben wie ein Lebensgefühl – dieser Fotograf ist ihnen auf der Spur. Genauer gesagt: Er wartet, bis es ihm die Vögel zeigen. Wie lange sich das hinzieht, sieht man den Fotos ebenfalls nicht an, aber in den Titeln ist es vermerkt: Wochen, wenn nicht Monate. Mylayne gewöhne die Tiere an seine Gegenwart, an Kamera, Stativ und Blitzlampen, ohne sie zu füttern oder gar zu zähmen, heisst es in seinem Bildband.

Und dann kommt der Moment. Nämlich jener, in dem der Vogel das Bild vollendet, indem er dort in der Komposition auftaucht, wo ihn der Fotograf erwartet. Also  gerade jetzt und hier, zwischen der siebten und der achten Latte dieses Zauns. Dann ist er wieder fort. Doch vorher noch blickt er uns durch die nächste Lücke an.

Buchcover

Ausstellung: Jean-Luc Mylayne: Herbst im Paradies. 18. Mai bis 11. August, Aargauer Kunsthaus, Aarau.

Gleichnamiger Bildband im Verlag Hatje Cantz, Berlin 2018. 128 Seiten, etwa 35 Franken.

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