Souvenirs vom Weltuntergang

Kann man radioaktive Strahlung fotografieren? Julian Charrière besuchte die Atombombentestgebiete des Kalten Kriegs.

Aspen – First Light, 2016. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Könnte Gischt sein. Die Gischt des Pazifiks an diesem Strand. Doch da ist kein Wind in den Palmen. Dann vielleicht das Licht auf der Linse? Gebrochen, gespiegelt, gestreut? Aller­dings gibt es diese Effekte nicht nur im Gegenlicht des Sonnenuntergangs hier in der Südsee. Sondern auch unter dem bewölkten Himmel auf der anderen Seite der Welt, in der kasachischen Steppe.

Willkommen in Semipalatinsk. Und willkommen auf dem Bikini-Atoll. In jenen Atomversuchsgebieten, wo die Ameri­kaner und die Sowjets im Kalten Krieg ihr Weltuntergangswerkzeug erprobten. Julian Charrière war dort, jener junge Mann aus der Waadt, der sich in der Kunstwelt im Nu unentbehrlich gemacht hat mit seinen ebenso pointenreichen wie handfesten Werken.

Polygon I, 2014. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Able – First Light, 2016. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Polygon X, 2014. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Maple – First Light, 2016. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Polygon III, 2014. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Sycamore – First Light, 2016. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

Polygon XXX, 2014. Foto: Julian Charrière © 2018 Pro Litteris, Zürich

In Installationen, Skulpturen, Videos, Fotografien verhandelt Charrière das Anthropozän, das Zeitalter des von Menschenhand umgebauten Planeten. Dabei spielt er stets mit dem Pa­ra­dox dieses Vorgangs: dem von Artefakt und Natur, von Ewigkeit und Kata­strophe. Und das gilt auch für die beiden Projekte, die Char­rière in den nuklear verseuchten Test­gebieten unternahm und nun in einem Buch veröffentlicht.

Tatsächlich waren die Tests schon der Ernstfall: Sie griffen mit einem Schlag in die Zukunft. Sie schufen ein Erbe, das endlos lang strahlen und den Archäologen auch dann noch von uns berichten wird, wenn es unsere Zivilisation nicht mehr gibt.

Souvenirs sind auch die Bildstörungen. Sie stammen von Partikeln der radioaktiven Erde, mit denen Charrière den Film in Kontakt gebracht hat. So gewann er der unsichtbaren Strahlung ein Selbstporträt ab. Und der Fotografie etwas Performatives. Jetzt, auf den zweiten Blick, sieht der Sonnenuntergang fast schon aus wie eine Detonation. Und der Beton, mit dem die Ingenieure die Wirkung der Bombe massen, wie die Ruine einer fernen Kultur. Schon heute.

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Julian Charrière: Second Suns.
Hatje Cantz, Berlin 2018.
Englisch, 2 Bände im Schuber,
je 144 Seiten und 76 Bilder.
Etwa 60 Franken.

ISBN 978-3-7757-4477-5

5 Kommentare zu «Souvenirs vom Weltuntergang»

  • Toni sagt:

    Das ist nicht „fotografiert“, das ist ein Foto ueberlagert mit einer Autoradiographie = Wiederbelebung einer seit Jahrzehnten antiquierten wissenschaftlichen Methode. Aber wenn’s ein „Kuenstler“ macht, dann ist es natuerlich ganz was anderes. Wenn’s wenigstens nicht so offensichtlich aussaehe …

  • Urs Gautschi sagt:

    Es gibt KEINE radioaktive Strahlung. Es gibt ionisierende Strahlung, ausgehend durch radioaktiven Zerfall.

    • Mario Monaro sagt:

      Und die wird eben umgangssprachlich radioaktive Strahlung genannt. Schon klar, dass das puristische Physiker nicht mögen, aber so ist es nun mal.

  • T Kirk sagt:

    Ich finde die Bilder eindrucksvoll, haette mir aber gewuenscht, dass die Flecken von der athmosphaerischen Strahlung stammen, und nicht von Sandkoernern. Jetzt fuehlt sich das Ganze doch ein bisschen sehr manipuliert an.

  • Christian Bernhart sagt:

    „In der Kunstwelt unentbehrlich gemacht.“ Das ist pure PR-Schreibe, und die Flecken als Selbstporträt der Strahlung zu nennen ist ein schräger Vergleich.
    Da ist der poetische Wille beim Schreiben total verunglückt, oder sollte in Analogie der gewählten Bilder verstrahlt sagen?

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