Erhöhtes Unbehagen

Was kommt heraus, wenn man Einsamkeit multipliziert? Michael Blaser blickt auf den gebauten Alltag in der Schweiz.

 

«Ich muss ja nicht in meinen Fotografien wohnen», sagte er und verhehlte nicht, dass ihn das erleichterte. Das war vor fünf Jahren, der Berner Fotograf Michael Blaser (*1979) machte sich gerade einen Namen mit seiner Serie «Mittelland». Das waren so nüchterne wie beklemmende Bilder des gebauten Alltags in der Schweiz, aus der Spaziergängerperspektive aufgenommen in den Quartieren jenes Siedlungsgebildes, das immer flächendeckender von Bern bis Zürich reicht. Was man sah, unter dem mattgrauen Hochnebelhimmel: Vereinzelung in Eigenheimen. Und Reglosigkeit, auch wenn gar nicht Sonntag war.

 

Die Alltagsarchitektur und die Frage, wie sie das Leben ihrer Bewohner und das Gesicht des Landes prägt – das ist Michael Blasers Thema geblieben. «Raumordnung» heisst sein neues Buch, das diesen Monat erscheint. Blaser hat sein Revier erweitert, bis zur alpinen Zone, und er hat auch seinen Blick verändert: Mit Abstand und aus erhöhter Warte zoomt er in die Kulissen der Agglomeration namens Schweiz. So schieben sich die Bauten ineinander, und so zeigt sich das gleiche Muster, und zwar überall (benannt sind die Orte einmal mehr mit Absicht nicht): ein Ohne- und Durcheinander zusammenhangloser «Eigenbrötlereien», wie es Blaser nennt. Und was er mit «Mittelland» in Einzelansichten porträtierte, Haus für Haus, das zeigt er hier als Gesamterscheinung: Vervielfachung der Vereinzelung. Es wächst eben nicht zusammen, was nicht zusammengehören will.

Klar sind das kritische Bilder. Und die Kritik betrifft die Lebensform der Mehrheit in diesem Land. Plakativ oder gar polemisch ist Michael Blaser aber nie. Zudem schöpft er aus eigener Erfahrung: Er ist in solchen Umständen aufgewachsen, vor den Toren Berns. Dort hat er sich auch jene Überdosis Melancholie eingefangen, als Lebensgrundgefühl, das ihn seither als Fotograf beschäftigt, wie er erklärt: Blaser zieht es dorthin, wo dieses Gefühl gebaut wird. Gepflanzt und angebaut. Und einen Grund, sein Unbehagen aufzugeben, hat er bisher nicht gefunden.

 

 

Michael Blaser: Raumordnung. Art Paper Editions, Gent 2018. 96 Seiten, 25 Euro.

 

20 Kommentare zu «Erhöhtes Unbehagen»

  • Hanspeter Fischer sagt:

    Wenn ich solche Bilder sehe muss ich mich gegen eine Depression wehren….
    ach ja der Exit Ausweis ist noch in der Schublade…….

  • Marius Furrer sagt:

    Nur ein Wort: Scheusslich!

  • betty hidden sagt:

    käfighaltung halt, die rentieren muss….

  • Thomas Camendzin sagt:

    Meist sind es Terassenhäuser welche die Gegend verschandeln. Ein absoluter Graus! Trotzdem an fast allen Hanglagen des Mittellandes zu sehen. Pfui!

  • Peter Aletsch sagt:

    In der Englischen Version von Wikipedia steht über die Schweiz immer noch ‚8 million‘. Hat gar nichts mit der Einwanderung zu tun. Wir brauchen die Ausländer: die einen schaffen für unser hohes Ansehen während der WM, indem sie goals schiessen. Die restlichen 10% sind höherqualifizierte ex-pats, ohne welche die Schweiz noch weiter unter Liechtenstein liegen würde (130’000 Fr. p. a. p. c.), und auch Singapur. Schuldig sind auch Architekten und Bauherren, die mit jeder Überbauung ‚Kreativität‘ oder höchste Ausnützungszahlen beweisen wollen.

  • Peter Huber sagt:

    Ha, auf dem Bild aus Bremgarten bei Bern, hat es sogar eine Person. Unten Links gleich neben den Hausnummer.

  • Fiorenzo Cornelius Wagner sagt:

    Diese Bilder des „gebauten Alltags“ zeigen nichts Geringeres als Beispiele jener Irrungen und Wirrungen der architektonischen Ästhetik der vergangenen rund sechzig Jahre. Die Beispiele mögen dabei durchaus schmerzlich in Erinnerung rufen, dass Wohnbauten primär rentable Investitionsgüter sind. Mit hochwertiger Architektur hat das in den allermeisten Fällen rein gar nichts zu tun. Man darf also wohl, ohne übertreiben zu wollen, davon ausgehen, dass über 90 Prozent der seit 1960 erstellten Bauten ungefähr dem entspricht, was diese Bilder dokumentieren. Und jedes Jahr kommen unzählige neue Erzeugnisse dieser Art hinzu.

  • Rolf Hefti sagt:

    Als Lastwagenfahrer, welcher auch mal auf dem Bau gearbeitet hat, wär es schön zu wissen, warum die vielen Baunormen in der Schweiz zu 95% nicht verwirklicht sind . Beispiel : Man möchte gerade vor die Muldengrube Vorfahren. Falls man danach aussteigen möchte kann man das gar nicht wegen der Mauer, 10 cm neben der Fahrertüre . Vorschriften ohne Kontrolle sind tote Materie. Von schönem Bauen vornehm zu schweigen.

  • Jessas Neiau sagt:

    Machen wir uns nichts vor: Die Hütten und Bruchbuden der meisten unserer Vorfahren waren im Vergleich zu den eigentlichen Häusern und Anwesen auch nicht schöner. Unterschied ist, dass die heutigen Plattenbauten wenigstens fliessendes Wasser, Elektrizität und Zentralheizung bieten und ausserdem nicht bei jeder Gelegenheit gleich ebenerdig abbrennen.

    • Stef sagt:

      Das sehe ich aber ganz anders:
      Die einfachen Mehrfamilienhäuser der Jahrhundertwende wurden architektonisch meist ansprechend entworfen und gefallen auch heute noch. Ebenso die einfachen Bauernhäuser auf dem Land, welche heute häufig unter Denkmalschutz stehen.
      In beiden Fällen einfache Architektur ohne Protz, aber mit einem Sinn für Proportionen, Ästhetik und Funktionalität.

  • Stef sagt:

    Andere Länder wurden durch Bomben zerstört, unser Land durch ein Übermass an unfähigen Architekten und gierigen Immobilienspekulanten.

    • Danielle sagt:

      Aber es schwärmen immer noch alle von der Schönen Schweiz. Ich sehe sie schon lange nirgends mehr, denn auch fast jeder Hügel und Berg ist unterdessen verbetoniert. Das Mittelland ein einzig Betonband. Aber die Leute reden es sich schön und verschliessen die Augen, und die Schweiz lebt immer noch von einem Image als Heile-und-tüchtige-Welt-Land, das der Realität längst nicht mehr entspricht – im Gegenteil – sie hinkt je länger je mehr überall hinterher – sei es bei den Technologien, der Automatisierung oder – erst recht – beim Umweltschutz. Viel schönes Papier und nix dahinter, das ist die Schweiz 2.0.

  • Enrico Voisin sagt:

    „Plakativ oder gar polemisch ist Michael Blaser aber nie.“
    Der Text von Daniel de Falco ist es aber um so mehr…

  • Hofstetter Christian sagt:

    Eine absolut gelungene Fotoreportage einer Schweiz, die dem Profit Tribut zollt, aufgrund von Betonunterbringungszwingern, die so hässlich sind, dass sich niemand getraut, ins Freie zu treten und auf Balkonen sich anzuschauen, wie die Welt rundum sich verändert; zugegebenermassen nicht zum Besten, was aber nicht heisst, dass darob die Melancholie nichts zu suchen hätte. Die Fotoreportage ist eine Fortsetzung des Films von Christian Schocher „Reisende Krieger“.

  • Martin sagt:

    Und was ist die Ursache? Hat es allenfalls etwas mit der Nettoeinwanderung zu tun?

    Bringen Sie eine Serie „Vorher – Nachher“ von all diesen Bildern. 1900, 1950, 2000.

    • Leo Klaus sagt:

      allenfalls sah es damals noch grauer aus…

      Die Schweiz ist ein regloses Land. Ich muss immer wieder belustigten Besucher (meist Kunden aus dem Ausland) erklaeren, dass dieses Quartier mitten in Zuerich nicht „abandoned“ sprich verlassen sei, wie sie mich manchmal fragen. Aehnlich sieht es an den vielen anderen Orten in der Schweiz wo ich aufgewachsen bin.

      Dass eine beliebiger Schweizer Ort praktisch zu jeder Tageszeit und vor allem in den Wohnquartieren voellig verlassen aussieht, dass kein Lebenszeichen zu sehen ist, daran musste ich mich damals nach langem Aufenthalt in diversen Laendern wieder gewohnen.

      Also die Einwanderer haben sich in diesem Sinn auch bestens integriert. Wenn schon liegt es wohl an die Schweizer Kaelte und am Beton.

      • Hanni Müller sagt:

        Und an fantasie- und visionslosem Bauen, an absurden Bauzonenordnungen und Vorschriften, an „Zürich ist gebaut“ etc.

    • Hans Ulmer sagt:

      Nein hat es nicht. Einerseits steigt der pro Kopf-Flächenverbrauch dauernd an, andererseits ist es das Resultat von Investoren, die den Hals nie voll kriegen, denen Qualität sowas von fern ist und die in ihrer Gier ganz vergessen haben, dass da auch Menschen drin wohnen. Und ja, es handelt sich um urschweizerische Unternehmen.

    • Christina sagt:

      In meiner Gegend mit neuen teuren Einfamilienhäusern ist es am Sonntag muxmäuschenstill. Ich weiss nicht, wozu die Menschen diese Häuser brauchen und den Garten. Ach ja, diesen zum Rasenmähen am Samstag. Das sind alles keine Nettoeinwanderer, oder doch? Nämlich aus der Stadt.

    • Peter Meier sagt:

      Diese Sichtweise greift massiv zu kurz. Die Schweiz war ja auch immer (meist) wirtschaftlich erfolgreich. Es waren schon in der Regel Schweizer, die ausländische Fachkräfte gelockt haben. Bei mir war es so, und bei vielen meiner eingewanderten Freunde ebenso. Und es waren in der Regel Schweizer Architekten und Bauunternehmer, die sich an diesem Dauerboom eine goldene Nase verdienen. Von den Schweizer Vermietern will ich gar nicht anfangen. In Summe profitieren hier in aller Regel Einheimische massiv finanziell von der Zuwanderung durch Arbeitskräfte. Was sagt dies aus über Lamd und Leute?

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