Revolution auf der Rolltreppe

Nebeneinander auf der Rolltreppe: Das ist in London eigentlich ein No-go. Foto: Paul Hackett (Reuters)
Wer London kennt, weiss um die dortigen Gebräuche. Den Einheimischen liegen sie, nach langjähriger Konditionierung, im Blut. Eins der wichtigsten ungeschriebenen Gesetze besagt, dass man auf Rolltreppen in der britischen Metropole rechts steht und links geht – dass also, in kuriosem Gegensatz zum Strassenverkehr, die linke Spur als Überholspur frei bleibt. Das akzeptiert jeder Londoner. Ahnungslose Touristen werden, wenn sie die ganze Treppenbreite beanspruchen, mit einem ungeduldigen «Excuse me!» aus dem Weg gedrängt.
In der U-Bahn-Station Holborn aber ist plötzlich die Welt aus den Fugen. Von Mitte April an soll man dort auch links stehen statt gehen. Das haben die Londoner Verkehrsbetriebe beschlossen. Von dieser Massnahme erhofft sich Transport for London (TFL) eine schnellere Beförderung seiner Fahrgäste von den Bahnsteigen zur Erdoberfläche. Die Beförderten jedoch sind entsetzt und weigern sich, das Spiel mitzuspielen. Links zu stehen auf der Rolltreppe geht dem Londoner gegen die Natur.
Einen halben Aufstand löste TFL bereits im vorigen Herbst aus, als es einen ersten Kurzversuch dieser Art in Holborn wagte. «Wollen die uns vielleicht befehlen, wo wir stehen oder gehen sollen?», ergrimmten sich Passagiere, die per Megafon zum Zweieraufmarsch vor der Rolltreppe aufgefordert wurden. «Sind wir hier in Russland? Oder im Kindergarten?» Und das waren noch die freundlichsten Kommentare.
So funktioniert es üblicherweise während der Rushhour. Quelle: Youtube.
Bekümmert schütteln Londons Verkehrsplaner darüber die Köpfe. Schon jetzt wird die älteste Untergrundbahn Europas dem Massenansturm kaum mehr gerecht. An Rekordtagen befördert das System fast fünf Millionen Menschen kreuz und quer durch die Stadt.
Von derzeit 8,6 Millionen Einwohnern soll London bis zum Jahr 2030 auf 10 Millionen wachsen. Immer neue Bahnlinien kommen dazu, ohne dass Stationen wie Holborn wesentlich erweitert werden können. Und immer häufiger verkehrende und schneller sich entladende U-Bahnen sorgen für zusätzlichen Druck.
In dieser Situation hat sich Transport for London etwas einfallen lassen. Und zwar das Motto «Fortschritt durch Stillstand» – eine bahnbrechende Idee. Was paradox klingt, macht jede Menge Sinn, bewegungstechnisch gesehen. Die vom Bahnsteig strömenden Massen sollen sich nämlich nicht länger mit dem Einfädeln in der Rechtsspur aufhalten, aus reiner Gewohnheit und zur Vermeidung der linken Spur.
Stattdessen sollen die Leute sich unten gleich auf zwei Spuren verteilen und so mehr Kapazitätsnutzung, mehr Durchfluss erlauben. Links wie rechts soll man künftig auf Rolltreppen stehen. Vor allem auf superlangen Rolltreppen, die sonst nur ein paar wenige Hyper-Athleten als Übungsgelände für den Gipfelsturm zum Ausgang benutzen – wie in Holborn, wo es um einen Höhenunterschied von 24 Metern geht.
Bereits die ersten Tests haben einen guten Erfolg verzeichnet. Sehr viel mehr Personen, zeigt sich, werden in sehr viel kürzerer Zeit durchgeschleust. Das Problem ist die kollektive Abwehrreaktion der Betroffenen gegen diese revolutionäre Massnahme. Die Angst, jemandem im Weg zu stehen oder von hinten überrannt zu werden, sitzt allen in den Knochen. Ausserdem scheut sich der immer auf ein bisschen Abstand erpichte Londoner davor, künftig mit einem Wildfremden minutenlang schweigend Schulter an Schulter zu stehen.
Schon bei den Versuchen im Herbst zeigte sich, wie schwer in dieser Frage das Umdenken fällt. Als damals nach drei Testwochen die Megafone verstummten und die uniformierten Einweiser abzogen, rückte anderntags alles schnell wieder auf die rechte Spur. Insofern hat das Ganze schon Kindergartencharakter. TFL hat sich darum für seinen kommenden, nunmehr sechsmonatigen Versuch in Holborn einen Kompromiss ausgedacht.
Von drei Rolltreppen hinauf zur Eingangshalle soll eine permanent voll, also doppelspurig, ausgelastet werden. Auf ihr ist Fortbewegung aus eigener Kraft dann nicht mehr erlaubt. Bei der zweiten Rolltreppe gilt das neue Überholverbot nur zu Stosszeiten. Und auf der dritten darf man weiter links gehen: wenn man unbedingt schneller als seine Mitbürger sein will.
Ob sich das in solcher Komplexität umsetzen und später auch auf andere Stationen ausweiten lässt, bleibt abzuwarten. Eine Debatte um gesellschaftlichen Verstand und sturen Individualismus hat die U-Bahn mit ihrer Initiative jedenfalls schon mal ausgelöst.
Dass ein paar «dynamischere» Zeitgenossen ein stetes Überholrecht haben sollten, wenn Millionen Passagiere dadurch zurückgehalten würden, ist nämlich auch nicht jedem einsichtig. Dann, meinte ein Spötter kürzlich, könne man ja auch an Strassenkreuzungen gleich separate Ampeln einrichten für Fahrer, die es eiliger hätten als der Rest.
4 Kommentare zu «Revolution auf der Rolltreppe»
Man könnte zur Abwechslung ja auch mal versuchen Massnahmen zu ergreifen das die Leute gar nicht mehr pendeln müssen (oder wenigstens kürzere Strecken, oder weniger oft), aber das ist wohl zu kompliziert und zu teuer.
Deshalb schlage ich vor die Rolltreppen doppelstöckig zu machen. Oder doppelt so breit. Das bring einen Kapazitätsgewinn. Wenn der dann nach ein paar Jahren wieder aufgebraucht ist könnte man die Rolltreppen doppelt so schnell laufen lassen, das bring wieder mehr Kapazität.
Eine Gehpflicht für alle Rolltreppensteiger wäre wohl sinnvoller.
Zum Glück haben diese Rolltreppen wenigstens keinen Gegenverkehr. Wenn dies anders wäre, würde ich da eine Variante frei nach „2. Gotthardröhre“ empfehlen 😉
Wie wäre es mit normalen Treppen?