Die Poesie der Strasse
Lebensweisheiten für die Krise: Die Arbeit des Künstlerkollektivs Boa Mistura in Madrid. Quelle: boamistura.com
Manchmal lohnt es sich, den Blick zu senken. In Barcelona etwa, in La Ribera, in Sant Antoni. In diesen Stadtteilen Barcelonas liegt Lyrik auf der Strasse – buchstäblich: in grossen, weissen, mithilfe von Schablonen kubisch hingesprayten Versen und kurzen Reimen vor den Zebrastreifen, am Rotlicht für Fussgänger. Zum Beispiel diese Kleinstpoesie, auf Katalanisch: «El mar és la meva terra», «Das Meer ist mein Land.» Oder diese: «Wir erinnern uns an die Küsse, die uns alles vergessen liessen.» Und diese: «Alles, was passieren kann, ist, dass alles passieren kann.» Mit der Dichtung ist es ja wie mit jeder Form von Kunst: Mal überfordert sie, mal mäandert sie im Seichten, mal macht sie glücklich, mal nachdenklich. Nur gleichgültig sollte sie einen nicht lassen.

Ein Wortspiel, das nur auf Spanisch funktioniert: «Ich will wissen, wie du schmeckst (oder riechst).» Foto: boamistura.com
Seit einigen Tagen erst stehen die Verse nun da. Viele übersehen sie, weil man ja heute reflexartig auf sein Handy schaut, wenn man warten muss. Und wahrscheinlich wird sie die unwirtlich winterliche Witterung schon bald wegwaschen. Doch noch sind die Verse da und wirken wie ein Gegenprogramm zum frenetischen Grossstadtleben.
Ihre Autoren, ein Künstlerkollektiv mit dem schönen Namen Boa Mistura (Gute Mischung auf Portugiesisch), möchten mit ihrer Poesie auf dem Asphalt «unsere Städte humanisieren». Eine schöne Mission, auch wenn sie natürlich illegal zustande kommt. Die Mission begann im Herbst in Madrid, wo die früheren Graffitikünstler herkommen. Sie kennen sich seit 15 Jahren.
Manche Verse hören sich wie Lebensweisheiten für die Krise an: «Es gibt keine Unmöglichkeiten, nur Unwahrscheinlichkeiten.» – «Achte vor allem auf jene Linie, die dein Lächeln zeichnet.» – «Schlafe weniger, träume mehr.» Nun ja, einige Verse findet man in ähnlicher Form in diesen geschmacksneutralen chinesischen Glückskeksen. Aber egal: Es zählt der positive Ansatz, die Humanisierung der Städte.
Viele Fussgänger übersehen die Poesie auch deshalb, weil sie einen anderen Spruch erwarten, einen, der sie seit einigen Jahren ebenda pädagogisch warnt vor den Gefahren bei der Überquerung der Strasse: «Jeder dritte Tote des Transitverkehrs war zu Fuss unterwegs gewesen», stand da bisher. Es war eine Kampagne der katalanischen Regierung. Die Typografie war dieselbe, auch die Grösse und die Farbe der Buchstaben war dieselbe. Nur die Stilrichtung des Verses war eine andere. Es war Prosa aus dem Alltag.
Scrollen Sie sich durch die Strassenpoesie von Boa Mistura: www.boamistura.com
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