Im Land der Prozesswut

Die Amerikaner seien «sehr anständige Leute», die nicht erwarteten, dass ihnen zugehört werde, sagt Sir Francis Hinsley in Evelyn Waughs köstlicher Satire «Tod in Hollywood». Dies, so Sir Francis weiter, sei «das Geheimnis sozialer Leichtigkeit in diesem Land». Wird hingegen ausnahmsweise zugehört, verflüchtigt sich die «soziale Leichtigkeit» und wird durch bleierne Schwere abgelöst. So etwa in amerikanischen Gerichtssälen, wo Anwälte wie Hähne aufeinander losgehen und jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird.

Nirgendwo praktizieren mehr Advokaten und nirgends wird mehr geklagt als im Lande der Prozesswut. Und mit wachsender Sorge beobachten Richter und Standesvertretungen ein bedenkliches Absacken juristischer Umgangsformen mitsamt einer Verschärfung des Umgangstons. Anwälte bewerfen sich mit Fäkalausdrücken und werden zuweilen handgreiflich, sie bedrängen Zeugen und verleihen dem Gerichtssaal insgesamt das Ambiente einer Wildwest-Show.

Und neuerdings arbeiten sie sogar mit Elektroschocks. So jedenfalls geschah es unlängst vor dem Bezirksgericht in Salt Lake City im Staat Utah. Dort klagte eine Gruppe von Bauern gegen den Betreiber eines Kraftwerks, dessen Strom angeblich die Milchkühe auf den nahegelegenen Weiden schockte. Das arme Vieh erhielte unterirdisch verbreitete Stromstösse, behaupteten die Kläger. Um diesen Vorwurf zu entkräften, schob sich der Anwalt des Beklagten eine kleine Batterie mit anderthalb Volt in den Mund und verkündete danach triumphierend, rein nichts habe ihn durchzuckt, die Klage sei mithin abzuweisen.

Einer der Vertreter der Bauern, ein Anwalt namens Jefferson Gross, verwarf dies umgehend als einen üblen Trick. Der vom Beklagten aufgebotene Sachverständige, ein Mann namens Athanasios Meliopoulos, behauptete im Zeugenstand jedoch ebenfalls, die von dem Kraftwerk ausgehende Stromstärke sei extrem gering und dem Vieh deshalb nicht abträglich – was Anwalt Don Howarth, auch er ein Vertreter der klagenden Bauern, prompt ins Reich der Märchen verweisen wollte.

Er präsentierte dem Zeugen Meliopoulos zu diesem Zweck einen Scherzkugelschreiber, der eine Batterie mit anderthalb Volt enthielt und überraschende Ministromstösse austeilt. Meliopoulos habe dem Gericht ja gesagt, dass ein Stromstoss von anderthalb Volt nicht gefühlt werden könne, sagte Anwalt Howarth und bat den Zeugen, doch bitte den entsprechenden Knopf des Kugelschreibers zu betätigen.

Kinderspielzeug oder Elektroschocker: Scherz-Kugelschreiber. (Bild: PD)

Kinderspielzeug oder Elektroschocker: Scherzkugelschreiber. (Bild: PD)

Herr Athanasios tat wie ihm geheissen – und erlitt einen heftigen Schlag. «Sie haben das gefühlt, nicht wahr?», fragte boshaft der Anwalt, worauf Herr Athanasios sofort wissen wollte, ob sich in dem Kugelschreiber wirklich nur eine Batterie mit anderthalb Volt verberge. Tatsächlich befand sich in dem Kuli-Schocker ein Minitrafo, der die Voltzahl bis auf 750 hochschnellen liess – eine durchaus respektable Stromstärke!

Herrn Howarths Partner Jefferson Gross wiegelte zwar ab, es handle sich bei dem Scherzartikel «um ein Kinderspielzeug, das überhaupt nicht gefährlich ist», auf der Verpackung aber war eine klare Warnung zu lesen: Der Kugelschreiber sei nicht für Kinder, Herzkranke und Leute über 60. Das Gericht warf Anwalt Howarth vor, den über 60-jährigen Herrn Athanasios «in eine physisch feindselige Umgebung» verpflanzt und ihn hinterhältig mit einem Elektroschock traktiert zu haben. Dies widerspreche dem Dekorum des Gerichts, sei mithin eine Sauerei und müsse mit 3000 Dollar gebüsst werden. 2000 Dollar sackte das Gericht ein, derweil Herr Athanasios für den erlittenen Stromstoss einen Tausender erhielt. Nicht auszuschliessen ist, dass der Zeuge den Anwalt Howarth verklagen wird.

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12 Kommentare zu «Im Land der Prozesswut»

  • Philipp Rittermann sagt:

    amerika sucht geld. viel mehr ist dazu nicht zu sagen.

  • Hans Zumstein sagt:

    Und in kaum einem anderen Land können sich Anwälte mit Klagen so leicht eine goldene Nase verschaffen (ich schreibe absichtlich nicht von verdienen). Bis zu 50% der erstrittenen Summe fliesst in die Taschen der Winkeladvokaten. . . . da lohnt es sich, auch wegen abstrusen Gründen zu klagen zumal oft juristische Laien über den Streitgegenstand entscheiden (siehe Klagen und Gegenklagen im Fall APPLE gegen SAMSUNG).

  • adam gretener sagt:

    Da würde ich mich als CHer aber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wir sind doch das Land, wo jeder gegen jeden wegen eines Kiwi-Baums und den 4 Ästen über dem Hag gleich klagt.

    • Ellen sagt:

      Genau. Und wegen 2cm Überschreitung bei Grenzzaundiskussionen – selbst erlebt!

      • adam gretener sagt:

        In der Schweiz geht es eben nicht um Millionen, sondern um das Prinzip, gopfertami. Ich habe wegen diesen 4 Ästen meines Kiwi-Baums, monatelang totes Kleingetier bei mir vor der Türe gefunden. Ich hatte noch angeboten, ich schneide sie, kein Problem. Kommentar: Jetzt ist es schon zu spät… Der Richter kannte den Mann beim Vornamen und schlug seine Hände vor dem Gesicht zusammen.

  • Remo Nydegger sagt:

    @ Senn
    Traurig, dass sie nicht nur alle Anwälte und ganze Berufsgattungen in einen Topf werfen, nein, sie diffamieren dazu noch gleich ein ganzes Land. Da fragt man sich schon wer genau parasitär, nutzlos und krank ist…

    • Rene Kunz sagt:

      @Remo Nydegger: Tatsachen und Realität nicht erkennen, anerkennen und akzeptieren könnte leider auch eine weit verbreitete Krankheit sein?

  • Marcel Senn sagt:

    Ist ja auch kein Wunder – die USA haben vor Israel die höchste Anwaltsdichte der Welt und die müssen halt beschäftigt sein.
    Und wie bei allen parasitären Berufen wie Investmentbanker, Consultants sind die USA auch bei den Anwälten weltweit führend! Ist irgendwie schon komisch, dass sich die nutzlosesten Berufe in den USA am besten durchsetzen konnten — irgendwie ist dieses Land schon ziemlich krank in seinem Wesen!

    • Harry Harrer sagt:

      Das kommt vom USD = Reservewährung = Notenpresse = gratis Geld = Geld für nichts = sinnlose Berufe = Verteilungs-Hickhack.

    • Rene Kunz sagt:

      @Marcel Senn: Zu denn erwähnten Berufs Gattungen könnten Sie sicherlich auch noch Lobbyisten und ‚Karrierepolitiker‘ beifügen. Möglichkeiten sich auf die Kosten von andern zu bereichern und das erst noch ohne sich dabei die Hände zu verschmutzen was im Zusammenhang mit der EU auch schon auch in Europa wie auch in der Schweiz zunehmend festen Fuß gefasst haben

  • Mario Bernasconi sagt:

    Mag ja stimmen. Persönlich glaube ich jedoch dass im Tessin im Verhältnis noch mehr geklagt wird. Nirgends in der Schweiz hat es soviel Avvocati (verhältnismässig zur Bevölkerung) wie im Tessin. Schon im 18.Jahrhundert hatte von Bonstetten festgestellt, dass die Tessiner sehr streitsüchtig seien…. Frage: Und heute? Hat sich da was geändert im bello Ticino?

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