Auf dem Müll

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Also, ich muss jetzt erstmal gleich zu Beginn was sagen zu rückwärts aufgesetzten Baseballkappen, meine Damen und Herren, und zwar: don’t. Do not do it. Rückwärts aufgesetzte Baseballkappen gehen nur, wenn man 14 ist. So wie Justin Bieber vor sechs Jahren. Und sagen Sie nicht «Basecap». Das ist RTL-Idiotenenglisch. – Aber da wollte ich heute eigentlich gar nicht hin. Unser Thema ist heute ein anderes: Abfall. In seinem neuen Essay «Beschleunigung und Entfremdung» behandelt der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa die Zusammenhänge zwischen der ubiquitären sozialen Beschleunigung und einer der ältesten Fragen der Philosophie, nämlich der nach dem guten Leben.

Beschleunigung ist ein Leitmotiv in Rosas Werk; er sieht im spezifisch spätmodernen Umgang mit der Zeit die treibende Kraft unserer Gegenwart, in der Omnipräsenz von To-Do-Listen, Deadlines, Multitasking und sogenannten Zeitfenstern gar «Merkmale einer totalitären Herrschaft». Entscheidend ist dabei für ihn die Ungleichzeitigkeit der Beschleunigungsprozesse in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft (die Wirtschaft, vor allem die Finanzwirtschaft beschleunige sich beispielsweise exponentiell, während Kultur und Politik weitaus grössere Beharrungskräfte aufwiesen). In seinem «Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit» bringt Rosa nun neu den endlos diskreditierten Begriff der Entfremdung in die Analyse: Die rasante Beschleunigung des sozialen Lebens stehe der gesellschaftlichen Liberalisierung und Emanzipation prinzipiell antagonistisch gegenüber; sie beeinträchtige die Wahrnehmung individueller Freiräume zur Verwirklichung eines guten Lebens und führe zu einem Gefühl der Entfremdung.

Inwiefern? Inwiefern führt soziale Beschleunigung zu Entfremdung? Laut Rosa zum Beispiel durch beschleunigte Produktlebenszyklen: Der ständige und immer schnellere Austausch von Konsumprodukten, die fast nie mehr repariert, sondern immer gleich ersetzt würden, führe zu einer Entfremdung von den Dingen. Ebenso wie der Überfluss an erfahrungsarmen Erlebnissen, trivialen sozialen Kontakten und belanglosen Informationen Menschen von sich selbst entfremde. Hier geht Rosa zumindest in Ansätzen auch ein wenig in Richtung einer Kritik der Facebook-Mentalität, die wir schon besprochen haben. Auf jeden Fall schneidet er faszinierende Themenkreise an: die Unterscheidung zwischen «Erlebnis» und «Erfahrung», beispielsweise, die der auf «Events» fixierten Erlebnisgesellschaft grösstenteils abhandengekommen ist. Oder die Tragik der trivialen Resonanz der sozialen Netzwerke in der digitalen Welt. Und in der Welt der Sachen eben: die schiere Masse, mehr und mehr Objekte ohne die Hoffnung auf Transzendenz der Dinge, die Quantifizierung der Gesellschaft, die wir hier ebenfalls bereits diskutiert haben. Und das alles endet: auf dem Schrott. Zum Beispiel in der Entsorgungsanlage Hagenholz vor den Toren der Stadt Zürich.

Ich liebe Hagenholz, im korrekten Jargon «Recyclinghof» genannt. Obschon man ja im korrekten Jargon neuerdings noch lieber von «Upcycling» spricht als von «Recycling». Das ist auch eine Art von Beschleunigung. Egal. Hagenholz an einem Samstagmittag ist, obschon es zunächst nicht so aussieht, ein Ort der Kontemplation: die psychohygienische Gratifikationen der Trennung von belastendem Besitz verbinden sich mit der familiären Atmosphäre zwischen Menschen, die zu diesem Zwecke hier zusammengekommen sind, unter der gütlichen Aufsicht und Betreuung seitens der Mitarbeiter des Recyclinghofs. Die Leute sind immer nett in Hagenholz. Zum Beispiel entdeckte ich vorletzten Samstag am Rande einer Mulde diesen interessanten Stapel von Kunstgegenständen, von denen sich irgendein Sammler-Schrägstrich-Connaisseur aus etwelchen Gründen getrennt hatte, und natürlich war ich so fasziniert, dass ich sofort ein Foto machen musste. Siehe oben. Und dann kam ein Hagenholz-Mann, der mein Interesse bemerkt hatte, und offerierte in einem für Zürich doch immerhin seltenen Anflug ironischer Gütlichkeit: «Na gut, Sie dürfen das mitnehmen. Aber es kostet 500 Franken.»

Das nenne ich Upcycling!

14 Kommentare zu «Auf dem Müll»

  • Anh Toan sagt:

    Wurde die Welt tatsächlich schneller?

    Hatte meinen ersten eigenen Compi 1989, 25 Jahre später kann mein Compi noch immer nicht alles, was ich (und andere) damals schon als Potential gesehen habe (Papierflut statt „papierloses Büro“). Mit meinem erstes Auto, Kadett C, bin ich damals schneller Basel-Davos zu meiner Freundin gefahren, als mit einem modernen Auto heute möglich.

    Alte Menschen wollen bewahren, junge wollen Veränderung. Jungen kommt die Welt zu starr, langsam vor, Alten Menschen zu veränderlich, schnell. Nicht die Welt wird schneller, das Durchschnittsalter der Betrachter steigt.

  • Naseweis sagt:

    Was hat Abfall mit Beschleunigung zu tun?
    Man könnte die Frage auch umkehren und dann liesse sich leicht eine Antwort finden.
    Ist es doch bei vielen gang und gäbe sein Haus/Wohnung, sein Auto, sein Outfit und sich selbst in regelmässigen, immer kürzeren Abständen der „neuesten Mode, dem neuesten Wohntrend, dem neuesten Hype“ anzuschliessen. Und da praktisch niemand über so viel Stauraum verfügt all das ausgemusterte aufzubewahren landet es im Abfall. Will man/frau IN sein geschieht die in immer kürzerer Zeit.
    Und Recyclinghöfe haben offenbar eine lukrative Einnahmequelle

  • Hans Meier sagt:

    Ach! Früher war doch alles besser!! Ja, da war das Hagenholz noch ein _richtiges Erlebnis! Da konnte man die zu recyclenden Dinge so richtig schwungvoll in den Rachen der Anlage reinschmeissen! Was für eine Freude 🙂 Tschä-Päng, der IKEA-Billy, zschklirr, ein Spiegel…
    Das geht halt nicht mehr, seit dem ein Idiot rückwärts mit dem Auto in eben diesen Rachen gefahren war… schade :-/

    ps: Rückwärts aufgesetzten Baseballkappen sind schlimm, noch schlimmer wenn man dazu als Mann lange Haare hat, ein solches Exemplar von Mega-Idiot begegnete mir kürzlich in einer Zürcher Bar — iiiikk!

  • Ellen Key sagt:

    Tolle Skulptur. Ich höre schon die Feministinnen-Sirene heulen. Verstehe aber warum sich der Besitzer davon trennen wollte.

    • Philipp Tingler sagt:

      Da ist auch der eine Arm ab.

    • Ellen Key sagt:

      Philipp, Du bist ein Sonnenschein. Was wäre ein Tag ohne Deine Kolumne 🙂

    • Henry sagt:

      Na ja, selbst wenn man ihr den Kopf noch abschlüge, eine Nike von Samothrake wird’s nimmermehr…..

    • Daniel Gygax sagt:

      Ich bin fast sicher, diese Skulptur schon einmal irgendwo gesehen zu haben…auch damals hat sie mich in ihren Bann gezogen…genau, auf eBay! Und ich habe dann wegen eben diesem fehlenden Arm auf das Bieten verzichtet 🙂

    • Thomas Maurer sagt:

      Man könnte allerdings die Skulptur auch am Rumpf – so auf Schulterhöhe – schräg absägen und dann eine Glasplatte… Im Ernst: Die vom Autor beschriebene Trivialität macht sich in der Tat allenthalben breit. Ich würde sogar von einer totalen Verblödung sprechen. Konsumidiotie, Fratzenbuch, Vermüllung der Sprache… Es ist zum Verzweifeln! Ironischerweise wurden uns ja die neuen Informationstechnologien mit dem Argument aufgenötigt, wir würden Zeit sparen. Das Gegenteil ist eingetreten, da uns jetzt auch doppelt soviel Arbeit zugemutet wird. Trifft demtensprechend auch auf die Warenwelt zu.

  • Bernd Bunt sagt:

    Ich meine, man sollte von diesen Recycling-Höfen auch was mitnehmen dürfen. Und zwar zum Kilopreis, was der Recycling-Hof über die Materialverwertung anderweitig einnehmen kann. So ließe sich z.B. ein altes Fahrrad länger nutzen, weil man die neu nicht mehr erhältlichen Ersatzteile auf dem Recycling-Hof findet. Und vieles mehr. Könnte man da nicht eine Volksinitiative starten?

    • Rolf Thalmann sagt:

      In Basel gibt’s dafür jährlich einen von der Kehrichtabfuhr organisierten Bring-und-Hol-Tag: Am Morgen kann man gut erhaltene Sachen bringen, und vom späten Vormittag an kann man gratis mitnehmen, was einem gefällt. Abends kommt der Rest in die Verbrennung.

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