Just In Time

EMPFANG, STEHPARTY, GOTTLIEB DUTTWEILER INSTITUT, GDI, THINK TANK, FORSCHUNGSINSTITUT, FORSCHUNGSINSTITUTE,

Letzte Woche fand die Geburtstagsparty meiner Freundin Brida von Castelberg statt, und wie immer bei grösseren gesellschaftlichen Anlässen liess sich nebenbei sehr prägnant der Wandel der Umgangsform im Laufe der Zeit beobachten. Ich kann mich noch erinnern, da war es bei Partys die Mode, möglichst spät aufzutauchen. Darauf folgte die Mode, möglichst früh zu erscheinen. Und heute scheint die Ankunftszeit bei gesellschaftlichen Anlässen, wie vieles andere, eher als individuelle Stilentscheidung behandelt zu werden. Doch natürlich gibt es immer noch Regeln, die in Standardwerken wie «Debrett’s Guide to Etiquette» festgeschrieben sind. Dort kann man nachlesen, dass man bei einer Party ohne Dinner (fachsprachlich Drinks Party) innerhalb einer halben Stunde nach der offiziellen Anfangszeit auftauchen sollte. Obschon also die gesellschaftliche Grundhaltung gegenüber Pünktlichkeit entspannter scheint als jemals zuvor in der westlichen Kulturgeschichte, ist es also immer noch unhöflich, (viel) zu spät zu kommen. Bei einem gesetzten Abendessen gibt es sogar noch weniger Spielraum; hier sind zehn Minuten Verspätung das Maximum (es sei denn, man ruft an, weil man sich verlaufen hat, so wie ich neulich, als ich bei meinem Verleger zum Dinner eingeladen war).

Lieber zu früh oder lieber zu spät? Oder lieber gar nicht?

Wenn man hingegen zu einem jener frei strukturierten Anlässe mit Buffet Dinner und mindestens 75 Gästen eingeladen ist, die heutzutage einen Grossteil der gesellschaftlichen Verpflichtungen ausmachen, kann man im Grunde jederzeit aufkreuzen – nur nicht zum planmässigen Ende der Veranstaltung, denn das ist uncool. Uncool ist es übrigens auch, für die gesamte Dauer der Party auf derselben rumzuhängen. Bitte gehen Sie nach Hause, bevor Sie gebeten werden, das Licht auszumachen. Beharrungsvermögen ist was Schönes (und geradezu olympisches Beharrungsvermögen auf Partys wird beispielsweise Simon Le Bons Model-Ehefrau Yasmin und der Ex-Jimmy-Choo-Präsidentin Tamara Mellon nachgesagt) – aber auf einer Drinks Party sollte der manierliche Gast sicherstellen, dass er seine Verabschiedungen spätestens zehn Minuten vor dem offiziellen Ende des Anlasses beendet hat. Leider gerät der hübsche europäische Brauch eines offiziellen Partyendes immer mehr aus der Mode bzw. in Vergessenheit. In diesem Fall sollte man sich an die Faustregel halten, dass es Zeit wird, zu gehen, wenn nur noch rund zehn Prozent der Gäste anwesend sind. Oder an die noch ältere Faustregel: Jedes Zeichen von Müdigkeit auf der Seite der Gastgeber darf nicht übersehen werden.

Schlechthin unhöflich (und sozial unbeholfen obendrein) bleibt es selbstverständlich, zu früh aufzukreuzen. Der Vorteil für Frühkommer besteht natürlich darin, dass die Canapé-Tabletts noch gut gefüllt sind, aber erstens sollte dies bei guten Gastgebern sowieso zu jeder Zeit der Fall sein und zweitens: Wen kümmert das schon in einer Gesellschaft, in der Essen so was von aus der Mode ist?

Unser Zwischenergebnis lautet: Zu spät ist immer noch weniger schlimm als zu früh; mit der einzigen Ausnahme der Einladung zum Essen. Hier ist zu früh zwar auch unangebracht, denn dann ist man im Weg, (hoffnungslos) zu spät hingegen bedeutet, dass man den Abend ruiniert, die anderen Gäste vor den Kopf gestossen und den Gastgeber blamiert hat.

Absagen

Auch heutzutage, wo sich durch Speed-Dating, Facebook und anonyme Kuschelpartys die Struktur von Verabredungen und Verbindlichkeiten geändert hat und die Palette von Zustreuungsmöglichkeiten ins Unendliche ausgedehnt zu sein scheint, gilt immer noch die alte Grundregel aus den Zeiten unserer Eltern (und ihrer Eltern): Wenn man eine Einladung akzeptiert hat, taucht man auf, wenn nicht, dann nicht. Diese Grundregel bewegt sich in scharfem Gegensatz zur modernen Unsitte der sogenannten Einladungs-Optimierer, also jenen Leuten, die jede Einladung erst mal akzeptieren, aber schliesslich nur zu den Anlässen gehen, die sie für die besten halten – übrigens auch dann, wenn sie gar nicht eingeladen sind.

Auf eine Einladung gar nicht oder extrem kurzfristig zu reagieren, ist also ruppig. Und bei kurzfristiger Verhinderung greift man zum Telefon und nicht zur SMS-Tastatur. Okay, für absolute Notfälle biete ich Ihnen einen Kompromiss an: Rufen Sie direkt die Voicemail Ihrer Gastgeber an und sprechen Sie Ihre Entschuldigung auf Band, falls Sie keine persönliche Konfrontation wünschen. Dies aber nur in absoluten Notfällen, die Sie freundlicherweise selbst bestimmen. Ansonsten sind kurzfristige Absagen persönlich vorzubringen. Sogar dann, wenn die Einladung selbst sehr kurzfristig (das heisst: weniger als zehn Tage vor dem Anlass) bei Ihnen eingetroffen ist, so dass Sie mit Fug und Recht vermuten dürfen, dass man Sie lediglich als Fill-in Guest (FIG) für eine bereits eingegangene Absage eingeladen hat. Weil Sie nämlich auch nie ein Save The Date erhalten haben. Ich war im Sommer auf einer Party, wo es ein beliebtes Konversationsthema unter den Gästen war, wer ein Save The Date erhalten hatte und wer nicht und wer auf sieben Uhr eingeladen worden war und wer auf zehn Uhr. Woraus folgt: Wenn Sie als Gastgeber zwischen Ihren Gästen diskriminieren, was grundsätzlich aus organisatorischen Gründen zulässig ist, können Sie nicht damit rechnen, dass das nicht rauskommt. People talk, you know. Und noch ein kleiner Warnhinweis: Sie sollten in gesellschaftlicher Konversation Save The Date niemals mit STD abkürzen.

Speed-Partying

Aber was sind heutzutage, im Zeitalter des Multitasking und des flexiblen Menschen, überhaupt noch zulässige Entschuldigungen für das Absagen von Verabredungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen? Natürlich richtet sich das immer noch nach der Bedeutung des Anlasses und der Nähe der Bekanntschaft. Das heisst: Sie brauchen einen besseren Grund, um Ihre Teilnahme an der Hochzeit Ihres Bruders abzusagen als Ihre Anwesenheit bei einem Verlags-Stehempfang zum neuen Molligentrostyogahörbuch von Susanne Fröhlich. Und die neuen Formen sozialer Engagements in der virtuellen Gesellschaft, zum Beispiel Chats oder Welteroberungsspielchen, haben den tiefsten Verpflichtungsquotienten von allen.

Dies vorausgeschickt, sollten Sie stets Entschuldigungen vermeiden, die so abgedroschen sind, dass schon Potiphars Weib sie praktizierte. Hierunter fallen vor allem plötzliche Erkältungen und Migränen oder ein fehlender Babysitter (besonders wenn man, wie Frau Potiphar, überhaupt keine Kinder hat). Denken Sie sich wenigstens originellere Krankheiten aus! Statt sich umständlich zu entschuldigen, ist es in der eventorientierten Nonstop-Gesellschaft ohnehin sozial viel effizienter, sich in der Kunstform des sogenannten Speed-Partying zu üben: Man erscheint einigermassen pünktlich zur Party, absolviert eine rasche strategische Runde, in deren Verlauf man sich mit den Gastgebern sowie wenigstens zehn massgeblichen Gästen unterhält (am besten den redseligsten, die sofort weitertragen, dass man da war), – und verduftet wieder. Das Ganze muss nicht länger als 20 Minuten dauern, denn diese Zeitspanne ist nach «Debrett’s» die kürzestmögliche Aufenthaltsdauer für Partys. Speed-Partying ist allerdings, wie gesagt, eine Kunstform, die nichts mit jener epigrammatischen Anwesenheit zu tun hat, mit der manche gesellschaftliche Nachwuchskraft, die spät kommt und früh geht und dazwischen möglichst bombastisch auftritt, glaubt, irgendwelchen Feenstaub auf einen Anlass sprenkeln zu können. Diese dubiose Praktik des Brightly But Briefly (kurz BBB) hat dafür gesorgt, dass etwa der hier immer wieder gern erwähnten Patentochter von Prinz Charles, Tara Palmer-Tomkinson (kurz TPT), in der Londoner Gesellschaft das Prädikat FOTD (First Out The Door) verliehen worden ist. Inwiefern sich das auf Frau Palmer-Tomkinsons Einladungszahl auswirkt, ist nicht bekannt. Eine Auszeichnung ist es jedenfalls nicht.

Auch Gastgeber haben Pünktlichkeitspflichten

Und schliesslich gelten die Regeln des Social Timing selbstverständlich auch für Gastgeber. Was beispielsweise heisst: Es ist unschicklich, für acht Uhr zum Dinner einzuladen und dann so kurz vor zehn den ersten Gruss aus der Küche aufzutischen. Denn das bedeutet vorher fürchterlich viel Small Talk über den erratischen Türsteher vom Berghain oder die Frage, ob sich Maris in Antwerpen die Ellbogen liften liess.

Und wenn Sie glücklich wieder zu Hause sind, vergessen Sie nicht, sich anderntags schriftlich zu bedanken. Und mit «schriftlich» meine ich: handschriftlich.

2 Kommentare zu «Just In Time»

  • Philipp Rittermann sagt:

    bezüglich dem bild – where the hell waren sie da – sieht mir nach einer vernissage oder einem treffen der „anonymen architekten“ aus, den outfits nach zu beurteilen? apropos vernissagen: das sind schöne anlässe, da praktisch keine konventionen vorhanden. als ich noch viel zeit und kein geld hatte, war ich öfters da -> gratis essen und trinken und hopp wieder weg, (speed-vernissaging).
    im übrigen gehe ich heute nur noch an handverlesene events, komme pünktlich und gehe spät. alles was mit irgendwelchen verpflichtungen zu tun hat meide ich so gut es geht, auch geschäftlich.

  • urs bilger sagt:

    der klassiker ist das weihnachtsessen im geschäft. nach einem privaten aperöchen mit ca. 3 promille angeschwankt kommen und nach dem offiziellen champagner apero vor dem essen gleich wieder die fliege machen. mein chef fands irgendwie nicht so lustig; englische spassbremse halt 🙂

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