Völlig daneben?

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«Du musst aufpassen, dass du nicht zu einer ganz schrecklichen Person wirst, Kleines», sagte Richie, der beste Ehemann von allen, unlängst zu mir, und zwar auf dem Postamt Zürich-Neumünster, nachdem ich ebendort eine Seniorin, die mir viel zu langsam lief, durch geschickten Hakenschlag gerade noch rechtzeitig vor dem Automaten überrundet hatte, der die Wartenummern ausgibt. Und Richie hat Recht. Mehr noch: Ich bin längst eine schreckliche Person, jedenfalls bisweilen. Mein Mangel an Feingefühl ist anscheinend legendär, und ich habe mit meiner renitenten Art schon Elitesoldaten zum Weinen gebracht. Sagt Richie. Bewegung ist für mich ein wichtiger Aspekt des öffentlichen Lebens, wo ich ein knappes, strackes Betragen schätze und es schlecht vertrage, wenn irgendwer nicht schnell genug läuft oder beim Laufen die Füsse nicht hebt oder am Absatz von Rolltreppen stehenbleibt. Ich reagiere auf Menschen, die nicht darauf achten, ob sie einen mit ihren beknackten Neopren-Abenteuer-Rucksäcken anrempeln, genauso avers wie auf Leute, die sich vor Kohlehydraten fürchten. Wenn jemand nicht rechtzeitig zur Seite tritt, wenn ich passieren will, rufe ich «Achtung!», und ich würde selbst dem Dalai Lama mit meinem Gepäckwagen noch in seine orangefarbenen Hacken fahren, wenn er am Flughafen zu langsam vor mir herdackelte.

Dabei bin ich ein guter Mensch. Zum Beispiel huste ich nie im Kino und neulich habe ich sogar gebetet, nachdem ich einer Nonne den letzten Platz in der S-Bahn weggeschnappt hatte. Ich bin also beinahe so fromm, wie man es im täglichen Kampf mit Gottes verdrehter Schöpfung eben sein kann. Und trotzdem scheint mein Charakter an einigen Stellen etwa so auszusehen wie eine ganz miese Gegend von Los Angeles. Wieso? Wieso bin ich manchmal nur einen Millimeter davon entfernt, eine ganz schreckliche Person zu werden? Wegen anderer schrecklicher Personen, die zu nah an mir dran sind! Es handelt sich hier also quasi um reaktive Ruppigkeit. Meine These dazu ist: Das allgemeine Umgangsniveau ist gar nicht gesunken, die unmanierlichen Leute sind heute einfach nur präsenter. Seit jeher, über Zeiten und Kulturen hinweg, hat die menschliche Gesellschaft ihren Anteil an rücksichtslosen, unachtsamen Personen zu ertragen – die einzige historische Besonderheit unserer Tage besteht darin, dass diese rohen Exemplare nun über eine ungleich grössere Reichweite verfügen. Denn der postpostmoderne Mensch ist mobiler, vernetzter und technisierter als je zuvor, und das heisst auch, dass seine Möglichkeiten, den Mitgeschöpfen auf die Nerven zu fallen, sich nachgerade potenziert haben. Denken Sie bloss ans Internet, diese üble Gegend, die einen Stecker am Ende hat. Hier kann ein einziger Flegel gleich Tausende auf einmal vor den Kopf stossen. So wie ich. Hier. Jetzt.

Oder werde ich einfach nur alt? Kennen Sie das? Dass man sich fragt: Hätte ich dies und jenes vor zehn Jahren noch toleriert? Und wie soll das enden? Dazu habe ich neulich was Schönes im amerikanischen Fernsehen gesehen, und zwar bei Chelsea Handler. Die finde ich zwar nur so mittellustig (und ihre Bücher sind ziemlich schlecht), aber sie hatte in ihrer Talkshow «Chelsea Lately» die Schauspielerin Lisa Kudrow zu Gast. Kudrow, die ihre Show «Web Therapy» vorstellte, erzählte, dass ihr die Rolle der Phoebe in der Sitcom «Friends» immer etwas schwergefallen wäre, weil sie selbst eigentlich kein positiver, sondern ein eher skeptischer Charakter sei – was man irgendwie schon vermutete, wenn man Kudrow in der Pseudo-Reality-Comedy «The Comeback» gesehen hat, so viel besser als «Friends», geschrieben von ihr und Michael Patrick King von «Sex and the City», dessen neueste Kreation übrigens die vielversprechende Sitcom «2 Broke Girls» ist, die im Moment zum Beispiel auf Channel 4 läuft. Wie dem auch sei – auf die Frage, ob diese ihre mentale Negativität mit dem Alter zunehme, erwiderte Kudrow: Nein, im Grunde werde man milder. Worauf Chelsea Handler feststellte: «Ja, genau. Man wird grundsätzlich positiver. Und ausserdem boshafter.»

Rüpel aus Überzeugung: Jack Nicholson als Melvin Udall in «As good as it gets» (1997, Bild oben).

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