In Fermis Welt

Wie soll man das Velofahren in Zürich sicherer machen? An dieser Frage würden wohl auch Nobelpreisträger scheitern.

Enrico Fermi (1901 bis 1954) löste viele Probleme und baute den Atomreaktor X-10 (hier im Bild). Wie hätte er das Zürcher Velofahren sicherer gemacht? (Foto: Epa/Jim Lo Scalzo)

«Stellt euch vor», sagte der Lehrer letzten Dienstag am Besuchstag der Primarschule, «alle Kinder aus unserem Schulhaus würden sich um einen Fussballplatz aufstellen und sich die Hände reichen. Würden sie es schaffen, den Platz zu umzäunen?»

In Sekunden hatten ein paar Kinder ihre Antworten bereit, doch bevor er sie aufrief, sagte der Lehrer, das sei eine Aufgabe, die man nicht ganz genau beantworten könne. Weil man nämlich die Antwort schätzen müsse. «Diese Aufgaben nennt man Fermi-Aufgaben», sagte er. «Herr Fermi war ein Physiker, der in Amerika gelebt hat. Er konnte sehr gut schätzen

Enrico Fermi war der Champion des gesunden Menschenverstands. Wie viel Klavierstimmer gibt es in Chicago?, lautet eine seiner Aufgaben. Fermi schätzte: Drei Millionen Einwohner in Chicago, in jedem zwanzigsten Haushalt steht ein Klavier, das Instrument wird einmal im Jahr gestimmt, und so weiter und so weiter, macht hundert Klavierstimmer in Chicago. Oder: Wie stark ist die Druckwelle einer Atombombe? Fermi nimmt eine Schere, schneidet Papierschnitzel aus und wirft sie in die Luft. Er soll der Wirklichkeit ziemlich nahe gekommen sein.

Das hat der Lehrer den Kindern nicht erzählt: Fermi ist einer der Väter der Atombombe. 1942 gelang ihm in Chicago die erste Kernspaltung, dann zog er nach Los Alamos und arbeitete am Bau der Bombe, die 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde. Vorher hatte sich Fermi überlegt, mit Uran die deutsche Lebensmittelproduktion zu vergiften. Seine Frau war Jüdin, deshalb hatte er das faschistische Italien verlassen müssen. Harte Zeiten.

Die Kinder machten sich munter an die Aufgabe. Sie schätzten die Anzahl der Schüler, den Umfang eines Fussballfeldes, die Länge der ausgestreckten Arme. «Man sagt, die Distanz von Fingerspitze zu Fingerspitze entspreche der Körpergrösse», sagte ein Junge. «Wie auf der Zeichnung von Leonardo da Vinci», flüsterte eine Mutter.

Der Lehrer holte den rot-weissen Massstab: «Sagen wir, der Abstand zwischen zwei Kindern beträgt einen Meter.» Die Kinder rechneten, ich schweifte ab. Fermi hatte das Denken eines Journalisten, überlegte ich, er versuchte zu schätzen, wie die Wirklichkeit funktioniert. Nehmen wir die Velofrage. Zu viele Menschen sterben jährlich im Strassenverkehr auf dem Velo, so viel wissen wir. Was kann die Stadt tun?

Auf Koexistenz zu bauen, auf gegenseitiges Verständnis und Rücksichtnahme, wie bisher, das ist vorbei.

Also bleibt die Entflechtung. Etwa die Rämistrasse, eine wichtige Veloachse zu den Hochschulen, aber eine enge Schlucht. Wo soll der Veloweg hin­kommen, neben die Autos, neben das Tram, neben die Fussgänger? Am ehesten kann noch das Auto Platz machen, aber dann wird der Rückstau noch länger. Lässt sich das Problem überhaupt lösen? Oder braucht es eine radikale Idee? Was würde Fermi sagen?

Die Schulglocke holte mich zurück. Die Kinder hatten ausgerechnet, dass sie im Schulhaus zu wenig waren, um ein Feld zu umfassen. Problem gelöst.

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