36 Stunden Schlamm – Zürich Openair
«Sie haben ihr Zelt mitten in den Weg gestellt«, sagten zwei Jugendliche, nachdem ich mein Domizil am Zürich Openair fertig aufgebaut hatte. Die Sie-Form und meine eigene Unachtsamkeit sagten mir: Ich bin falsch hier. Doch aufgeben ging nicht, denn ich wollte in diesem Jahr in Rümlang ja nicht bloss Musik hören, nein, ich wollte das Festival umfassend kennenlernen. Und dazu gehört eine Nacht auf dem zum Zeltplatz umfunktionierten Acker.
Ausserdem sind hier beinahe keine Zürcher, ganz im Gegensatz zu den Festivals in Bern oder St. Gallen, wo auch die lokale Anwohnerschaft gerne übernachtet. Warum also nicht einfach anfangen damit?
«Wer schläft heute Abend eigentlich auf dem Zeltplatz?», fragte wenig später Erlend Oye von The Whitest Boy Alive, die nachmittags auf der grossen Bühne auftraten. Hände gingen fast keine in die Luft. «Das nächste Lied ist für euch!», rief er und spielte mit seiner Band das Lied Courage. Ich war besänftigt.
Das Zelt stand also – ich habe die Wegmarkierung übrigens leicht verschoben, um meine Deplatziertheit zu kaschieren – und ich konnte mich nun ganz auf die Musik konzentrieren, und nebenher den Umstand verdrängen, dass ich hier übernachten werde.
Die Musik im Allgemeinen war toll, es gab viele Highlights und wenig zu meckern. Ausser vielleicht, dass gewisse Konzerte zu leise waren (vorwiegend im Zelt) oder dass Bands wie Grandaddy, Tindersticks, Soulwax und eben The Whitest Boy Alive, die alle eigentlich in die Nacht gehörten, bei hellstem Tageslicht auftraten.
Doch sind Nachmittagskonzerte normal an Festivals. Stuart Staples von den Tindersticks jedoch verabschiedete sich (um 15 Uhr) – nach einem fabelhaften Konzert – mit den Worten: «Hope to see you in a dark place sometimes».
Was durchaus doppeldeutig aufgefasst werden kann. Denn ein Festival ist quasi das Gegenteil von Introvertiertheit. Drei Tage Knutschen, Saufen und gute Laune bis zum Umfallen. Zumindest wenn man die ganze Zeit hier lebt – so wie ich.
Der Freitagabend war an Highlights arm und an Regen reich. Trotzdem wurde es fünf Uhr bis ich den schlammigen Weg zum Zelt endlich angetreten hatte. Meine Freunde liessen sich zuvor zwar noch auf ein paar Biere ein, doch irgendwann nahmen sie das Taxi in die Stadt. Nicht ohne mich zu fragen: Willst du nicht einfach mitkommen? Nein!
Die Wege aus Filz durchs Flüchtlingslager, ähm, durch den Zeltplatz waren im Schlamm versunken. Die für Festivals typischen Substanzen in meinem Kreislauf liessen mich aber rasch wegdösen. Die Nacht war überraschend ruhig. Ein paar Nachbarn pumpten noch Matratzen auf, ansonsten wars still.
Als ich nach drei Stunden wieder aus dem Zelt schlüpfte, es war halb neun und die Sonne brannte aufs Gelände, tranken ein paar an der Bar bereits Bier. Viele andere standen barfuss im Matsch in der Schlange vor den Toilettenhäuschen. Ich stellte mich in die Reihe.
Auch wenn man anderes hörte: Fliessend Wasser war zumindest an diesem Morgen gewährleistet. Nur Deos waren seltsamerweise auf dem Zeltplatz verboten. Ich bürstete mir die Zähne und machte mich wieder aufs Gelände, wo es nach verdunstetem Alkohol und Red Bull roch und wo im Cardinal-Häuschen bereits Musik lief.
Der Samstag war besser als der Freitag. Die Tindersticks spielten vor gefühlt hundert Leuten und in der prallen Sonne. Doch die samtene Melancholie ihrer Lieder verzauberte selbst dieses seelenlose Festivalgelände. Später waren es Tocotronic oder Mogwai, die krachend losschrammten und trotz anhaltendem Regen und Sturm die Massen bei Laune hielten.
Man wartete nun also auf die Elektronik-Urväter von Kraftwerk. Es war bedeutend kühler geworden. Neidisch begutachtete ich Neuankömmlinge mit sauberen Jeans und Gummistiefeln. Ich selber war verdreckt bis unter den Scheitel. Überdachte Sitzmöglichkeiten gabs keine mehr.
Wie also noch die letzten Stunden herumschlagen, nach mehr als 24 Stunden auf dem Festivalgelände? Orbital bildeten überraschend eine geglückte Brücke – kombiniert mit Hamburgern und Bier freilich. Das englische Elektronik-Duo lieferte eine vertrackte Science-Fiction-Show ab, mit ebenso aufwändigem wie beeindruckendem Lichtspektakel.
Auch Kraftwerk sparten nicht an Effekten. Die vier deutschen Musiker bewegen sich auf der Bühne zwar kaum. Dafür flimmerten während des Konzerts 3-D-Filme über die Leinwand, die in Kombination mit ihrem glasklaren Sound einem Festivalbesucher, der schon mehrere Tage in Rümlang verweilt, schon mal den Rest geben können.
Ich verliess den Zeltplatz und das Festivalgelände noch bevor die Band fertig war.
Und beinahe hätte ich etwas von dem befreiten Rausch mitbekommen, der Menschen befallen muss, die mehrere Wochenenden pro Sommer auf Festivals verbringen. Eins wurde mir jedenfalls klar: Irgendwann wird man gleichgültig gegenüber Schlamm, fettigem Essen, dauerfeiernden Massen und prekären Schlafverhältnissen. Schneller als einem lieb ist.
Nur ist man danach etwa so entspannt wie nach einem Reisnagelbad. Aber das ist ja nicht der Punkt hier.
Nur noch ein paar Worte zu den Kritiken am Zürich Openair: Das Bezahlsystem mit den Jetons sei schlecht, ebenso die Atmosphäre. Gestört hat mich das Spielgeld nicht. Ausserdem gabs das auch an Festivals in Frankreich. Was die Atmosphäre betrifft, hatten zumindest die regelmässig direkt übers Gelände donnernden Flieger etwas für sich. Da bleibt noch die Sache mit der Lautstärke. Ja, einige Bands waren zu leise. Vor allem im Dance-Circus-Zelt, wo man in der hinteren Hälfte in Zimmerlautstärke plaudern konnte. Was aber wohl mit den Auflagen zu tun hat. Ansonsten: Ja, es war ein Festival. Und ja, nun ist die Saison ja auch schon wieder vorbei.
20 Kommentare zu «36 Stunden Schlamm – Zürich Openair»
Mir blieb leider vorallem das dämliche Spielgeld in Erinnerung. Natürlich lohnt sich sowas für den Veranstalter.. vorallem wenn sich diese am Schluss nur noch durch stundenlanges anstehen zurückwechseln lassen… (Kassen öffnen – nicht schliessen!!)
Ah ja, man konnte sie ja spenden. Was für ein wohltäterisches Herz doch im Veranstalter schlägt!!!
Wir waren nur am Fanta4-Konzert und sind auch nur wegen ihnen ans Openair. Das Openair war sehr gut organisiert.
Es fehlte an Nichts, vor allem auch food-technisch wurde sehr viel geboten. Die Preise waren eher etwas höher…
Es hatte viel Schlamm, viel Fläche war aber auch abgedeckt und man konnte bis zur Bühne, ohne durch den Schlamm zu laufen.
Die Show der „Fantastischen 4“ dauerte 75 Minuten, was für meinen Geschmack etwas zu kurz war…
Zwei Songs haben mir besonders gefallen: „Tag am Meer“ und „Gibt uns ruhig die Schuld“.
Die Stimmung am Konzert war ok, aber jetzt auch nicht mehr.
Ich war an einem Fanta 4 Konzert auf dem Gurten und am Fanta 4 Konzert im Zürcher Hallenstadion.
->Das am Zürich Openair war leider das schlechteste von allen ->sorry
naja, war ein schöner Ausflug am Sonntagabend und die Stimmung ist an einem Openair auch ganz anders, als z.B. in einer Konzerthalle.
Im grossen und ganzen war es ok, nur das versprochene Gratiswasser welches es nirgends gab und das lasche Publikum am Samstag abend ärgerte mich. Viele drängten im Zelt nach vorne um dann dämlich rumzustehen, wahrscheinlich um ein Foto zu machen und dann sagen zu können …ich war dort ! Die Party ging viele Reihen weiter hinten ab.
hier mein fazit:
ich war vier tage/nächte da, hab mich aber in den nächten jeweils nach hause gekämpft dank super öv verbindungen. das erhöht den erholfaktor schon gewaltig. vom booking her fand ich des festival grossartig. grandaddy, the shins, the whitest boy alive, alt-j, tindersticks, auch yann tiersen oder bloc party und mogwai (letztere beiden halt leider unter der dusche) machten das festival line up sehr edel. und kraftwerk in 3d war wirklich einmalig. habe insgesamt ca. 30 konzerte (ganz) gehört. leider leider war der sound aber tatsächlich erst ab samstag gut. tindersticks waren am samstag nachmittag (viel) lauter als the prodigy oder die chemical brothers. ich bin regelmässig an festivals und einen so schlechten sound wie bei einigen bands am freitag gibts wirklich nur ganz selten. bei den chemical brothers hat das mir das konzert/set verdorben (dazu kam noch das gemoste im zelt wegen dem regen draussen).
das zahlsystem hat mich überhaupt nicht gestört, im gegenteil. an anderen festival habe ich schon so kleine papierfötzeli als zahlungsmittel erlebt, bei jedem zahlvorgang flattern ein paar aus der hose und wenn das weekend vorbei ist finden sich noch zwanzig davon irgendwo. die qualität des angebots war eindeutig überdurchschnittlich. wenn auch die preise enorm sind, 15fr für einen teller nudeln, 7.50fr für ein paar nachos…
mein persönliches ärgernis war der handydiebstahl während prodigy aus der hosentasche (vorne)… da haben sich doch bestimmt im dunkeln viele ohne ticket aufs gelände geschlichen. die offizielle angabe sind 58 diebstähle, aber die effektive zahl ist mit sicherheit viel höher.
es überwiegt aber das positive und ich freue mich aufs nächste mal.
der herr sarasin spricht mir aus der seele – ich habe das ganze genauso wahrgenommen wie er.
ich war donnerstag und samstag dort. ich habe wirklich nichts und gar nichts zu meckern, ausser dass all die stadtzürcher (ich bin selber einer aus dem K4) sich zu gut sind um auf dem zeltplatz zu übernachten! ich erntete von anderen besucher doch so einiges an AAA-HA, du bist von hier und auch ein bisschen spott, da wir stadtzürcher (leider) ein schlechtes image haben 🙂
nun ja, wie bereits gesagt, mir hats gefallen und ich werde nächstes jahr wieder dabei sein – sofern es wieder stattfindet.
super lineup, super system mit den tokens (die bösen bösen angestellten klauen so weniger geld), super gelände, super besucher!!
DANKE!
Scheint, als erwarten wir FirstClass Bedingungen am Open Air Konzert.
Wer einmal das Wacken Open Air ge/erlebt hat, geht wohl mit ganz anderen – bescheidenen – Erwartungen auf die grüne Wiese.
Und eben, Wacken hat klein angefangen!
Wenn guter Sound, fliessend (und gratis) Wasser und etwas kommerziellen Freiraum als First-Class Bedingungen gelten ….
Ich brauch keine 20+ Foodstände mit Essen von allen Kontinenten. Ich kann ganz gut mit einer Bratwurst und einem Cervelat leben, dazu ein Stück Brot. Und so sehr ich Capis und Mojitos mag, ich brauch auch nichts davon an einem Open-Air, und auch keine Red Bulls und sonstige Energy Drinks.
Ich geh zu einem Open-Air um mit guten Freunden guten Live-Sound zu hören und zu erleben, das ganze in einer relaxten Atmosphäre. Anscheinend haben die Ansprüche sich verändert.
Nun ja, heutzutage ist ja alles besser, geiler, cooler …. 😉
Ihr Kinderlein kommet ans Openair, werft ein was euch wegdösen lässt, lasset euch ausnehmen wie die Weihnachtsgänschen und vergesset nicht alles ganz toll zu finden, auf dass ihr brave Konsumenten bleibet bis dass der Tod euch scheidet von den dankbaren Empfängern eurer gütigen Almosen, denn was solls, ihr habt es ja, und Gescheiteres fällt sowieso nicht ein in eure weichen Birnen…
Da braucht wohl wieder mal jemand ne Umarmung…
Am Züri-Openair wurde geklotzt und geprotzt. Vieles stimmte. Das Line-up war grossartig. Allerdings war die Sound-Qualität am Freitag miserabel.
Bei The Prodigy fielen die Lautsprecher mehrmals aus, so dass zeitweilig kaum etwas zu hören war. Eine Peinlichkeit sondergleichen.
Ebenso etwas später bei The Chemical Brothers DJ-Set in der Zeltbühne: Wir standen in der Mitte des Zeltes und hatten zeitweise Mühe, die Musik überhaupt zu höhren. Wir konnten uns in normaler Lautstärke unterhalten. Über uns schwebten zwar grosse Lautsprecher, nur funktionierten sie nicht. Die Musik tönte ausschliesslich von vorne. Mono statt Stereo.
Eben: Es wurde so richtig geklotzt am Openair – man will ja gross anfangen und nicht klein, so wie jedes andere Openair, das mal winzig war und heutzutage zu den grossen gehört.
Nur leider funktioniert das Geklotze nicht.
Das Openair Zürich glich einem grossen, kräftigen – nur leider kastrierten Stier.
Action, Bier, Regen, Natur und dann wieder rumstehen. Gute Vorbereitung auf den Militärdienst!
Der Satz „Die für Festivals typischen Substanzen in meinem Kreislauf liessen mich aber rasch wegdösen.“ ist durchgestrichen, aber nicht gelöscht. 🙂
Na ja, das mit dem Spielgeld seh ich etwas differenzierter, wie auch einige andere Sachen. Ja natürrlich, das Lineup war gut.
Aber ansosnten vermiss ich die Einfachheit von einem Open-Air der früheren Tage. Als man noch einfach seine Sachen packen und ans Open-Air reisen konnte, ohne vorher eine 2 seitige Checkliste durchzugehen um zu prüfen was erlaubt ist mitzunehmen und was nicht. Das Spielgeld war ärgerlich, v.a. die z.T. ellenlangen Warteschlangen um die Tokens zu erstehen oder am Ende wieder sein baares zurückzukriegen. Ich würde mal behaupten dass diese haupsächlich dazu eingeführt wurden um zu kaschieren, wie teuer eigentlich alles an diesem Festival war. Denn 5 Plastikchips auszugeben für einen Döner ist einiges weniger schmerzhaft als CHF12.50! Aber es schleckt keine Geiss weg, dass die Preise für Getränke und Essen doch recht gesalzen sind (v.a. wenn man bedenkt dass das mitbringen von Getränken ja nicht erlaubt ist). Dass die Organisatoren damit durchkamen, bei den Toiletten kein Wasser zu installieren geht mir nicht rein: as hygienischen Gründen hätte dies schlicht zu einer Auflage für die Organisatoren gehört (kurze Frage: hatten all die Helfer an den Foodständen separate Toiletten mit fliessend Wasser wo man sich die Hände waschen konnte … Wenn ja, schön für sie und gut für uns. Hät ich dann aber auch gerne gehabt. Wenn ’nein‘ … will ich jetzt gar nicht wissen).
Soundqualität wurde ja schon angesprochen: wenn man sich aber nicht grad in den paar Quadratmetern befand, in welchen der Sound optimal klang, dann war’s schon eher durchschnittlich mit der qualität, mal ganz nett ausgedrückt … Und das bezieht sich jetzt nicht nur auf die Lautstärke, sondern ganz speziell auch auf den Mix!
Wenn die Stimmung angesprochen wird: ist mir etwas schleierhaft, wie bei einer solchen Kommerzveranstaltung auch sowas wie Openair Feeling aufkommen soll. Das Programm war auf die Minute getrimmt und wurde ziemlich rigoros eingehalten, da war nicht viel Spielraum für irgendwelche Spontanität.
Alles in allem: guter Lineup, aber viel Kommerz und unter dem Strich sehr teuer, verbesserungswürdige Organisation.
Ist nicht so dass ich generell den guten alten Zeiten nachtrauere, vieles ist heutzutage einfacher und bequemer. Aber was Festivals angeht da vermiss ich die früheren Jahre doch schon etwas. War einfach viel spontaner und ungezwungener …
Ja, Pat, früher war einfach doch alles besser! Das hat mir meine Grossmutter schon vor 40 Jahren beigebracht.
@Max: wer lesen kann ist im Vorteil – das scheint leider nicht für alle zu gelten. Wie ich im Artikel geschrieben habe bin ich nicht generell der Meinung dass früher alles besser war, ganz im Gegenteil. Aber es gibt Sachen welche nun einfach mal besser waren – Punkt. Und in diesem Fall ist es meiner Meinung nach so.
Das mit dem ‚alles‘, ‚immer‘ oder ’nie‘ ist sowieso ne Sache: wäre schöne wenn man von dem digitalen 0 oder 1 Denken mal etwas Abstand nehmen und auch mal die Nuancen dazwischen betrachtet. Denn nebst Schwarz und Weiss gibts auch noch ganz interessante Grautöne dazwischen. Selber mal diese View ausprobieren, dann verpasst man auch weniger im Leben 😉
Um dich zu beruhigen. Ja, es gab genügend fliessendes Wasser im Staff-Bereich wie auch auf den Toiletten 🙂
Schade, dass es noch auf dem ganzen Gelände so war….
herr sarasin – ich bin entsetzt – was soll denn bitte der durchgestrichene satz im artikel….??! -> die „substanzen zum wegdösen“ brauchts doch nicht am konzert, wo man doch wach bleiben möchte, insofern es rockt?! – sie geben mir schon etwas zu denken. 🙂
Die Bilder lassen eher auf ein Flüchtlingscamp im Überflutungsgebiet schließen 🙂
Erlend spielte für die Zeltler „Courage“, nicht „Burning“… macht ja auch wesentlich mehr Sinn – bei diesem Wetter! 😉
das ist natürlich richtig. merci!