Sterbehilfe – eine problematische Erfolgsgeschichte

Wann ist ein Leben nicht mehr «lebenswert»? Das Schlafmittel Pentobarbital wird oft in der Sterbehilfe angewandt. Foto: Alessandro Della Bella (Keystone)
Die Zahlen sind eindrücklich: 742 Menschen haben 2014 in der Schweiz Sterbehilfe beansprucht. Das sind 26 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Sterbehilfeorganisation Exit zählt unterdessen über 100’000 Mitglieder und hat letztes Jahr 4,9 Millionen Franken allein an Mitgliederbeiträgen eingenommen. Der assistierte Suizid, so scheint es, stösst auf stetig steigende Akzeptanz und wird für immer mehr Menschen zur Option.
Nun ist es zweifellos so, dass das Wissen um diese Option vielen Todkranken Erleichterung verschafft. Und es wäre anmassend und verfehlt, über jene zu richten, die sich angesichts einer hoffnungslosen Diagnose für das autonome Sterben entscheiden.
Auch Depressive wählen Sterbehilfe
Dennoch stimmt der Boom nachdenklich. Denn die Sterbehilfeorganisationen helfen nicht nur Todkranken beim Suizid, wie die jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen. So litten drei Prozent der 2014 in den Tod Begleiteten an Depressionen, zehn Prozent an einer Krankheit des Bewegungsapparats. Gerade die Sterbebegleitung depressiver Menschen ist problematisch, kann doch der Sterbewunsch bei einer psychischen Erkrankung temporär sein. Zudem steht Exit unter Druck seiner Mitglieder, die Suizidbeihilfe auszuweiten – etwa auf Betagte, die zwar nicht todkrank, aber lebensmüde sind. Selbst ein Antrag, Sterbehilfe bei nicht mehr urteilsfähigen Personen zu gewähren, wurde an der letzten Exit-Generalversammlung diskutiert, dann aber verworfen.
Indem Exit wächst wie kein zweiter Verein, und auch nicht todkranke Personen in den Tod begleitet, nimmt die Organisation dem Suizid seine Ausserordentlichkeit. Je niederschwelliger das Angebot ist, desto grösser wird die Gefahr, dass sich Alte und Kranke unter Druck fühlen, den Suizid als Möglichkeit in Betracht zu ziehen – um mit einem vorzeitigen Abgang niemandem zur Last zu fallen. Natürlich setzt ein solcher Prozess nicht von heute auf morgen ein, und natürlich würde aktiver Druck vom Rechtsstaat unterbunden.
Eine Massenbewegung
Hier aber geht es um sublimen Druck. Und der wird zunehmen, je stärker die Pflegekosten steigen, die Rationierungsdiskussionen zunehmen und die Sterbehilfe zur Normalität wird. Exit gibt sich alle Mühe, solche Bedenken zu zerstreuen und betont stets, dass sich diese Befürchtungen bisher nicht bewahrheitet hätten. Das mag stimmen. Dennoch haben die Sterbehilfeorganisationen einen längerfristigen Prozess angestossen, der inzwischen Züge einer Massenbewegung trägt, frei von staatlicher Regulierung ist und den ab einem gewissen Punkt auch die Initiatoren nicht mehr kontrollieren können. Nötig wäre deshalb ein öffentlicher Diskurs zur Frage, ob es tatsächlich ein Zeichen von Fortschritt ist, wenn der Suizid zur Selbstverständlichkeit wird. Und ob nicht genauso viel Energie und Mittel aufgewendet werden sollten, um den Ausbau der Palliativmedizin zu fördern – und grundsätzlich darüber zu debattieren, welchen Stellenwert der Begriff «lebenswert» in einer alternden Leistungsgesellschaft noch besitzt.
19 Kommentare zu «Sterbehilfe – eine problematische Erfolgsgeschichte»
Jemandem den Wert seines Lebens abzusprechen, ist furchtbar. Genau so furchtbar ist es, positiv über den Wert seines Lebens zu befinden. Beides mag noch angehen, solange es bei einer privaten Meinung bleibt, aber es wird zur Respektlosigkeit – oder gar Bösartigkeit – wenn diese Meinung anderer, so oder so, zu seiner Stellung zum Leben zwingt. Sei es hinaus oder hinein.
Diskutieren ja, aber die Meinung von Minderheiten oder Mehrheiten darf keinen zwingenden Einfluss auf die Meinung und das diesbezügliche Verhalten des einzelnen nehmen. Die „gehören“ ganz allein ihm – wo nicht, ist die „Lebensstrafe“ nicht weniger verwerflich als die Todesstrafe.
Ein vertiefter öffentlicher Diskurs, ja gerne. Aber wieso gleich mit vorgefertigter Meinung im Titel?!
Wenn die Medizin Leben länger als nötig, gewünscht oder sinnvoll erhalten kann, braucht es schon eine ethische Diskussion, ob der Tod nur Gott gegeben abgewartet werden muss.
Dass Druck und Missbrauch entstehen kann, ist durchaus möglich und findet vielleicht schon statt. Das ist wohl der Preis der Freiheit. Deswegen den assistierten Freitod einzuschränken respektive nicht auszuweiten, wäre widersinnig. Zum Beispiel ist uns der Privatverkehr für unsere mobile Freiheit so wichtig, dass wir bereit sind, jeden Tag einen Toten und 5 Schwerlverletzte zu akzeptieren. Hier gehen mehr unfreiwillig Lebensjahre verloren, als jemals eine Ausweitung des assistierten Freitods produzieren würde. Gegen Missbrauch muss man etwas tun, aber deswegen den Freitod nur auf unheilbare Schwerkranke zu beschränken, wäre die Wiedereinführung einer kirchlichen Ideologie durch die Hintertüre.
Unsere Gesellschaft ist schon schizo – einerseits sind wir „besorgt“ darüber, dass immer mehr ältere und Alte lebensmüde sind und gehen möchten. Andererseits tun wir alles um sie abzuschieben und geben ihnen das Gefühl, dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Ja was jetzt? Die Alten waren gut genug um uns den Grundstein für unseren heutigen Wohlstand zu legen aber jetzt sollen sie bitte nichts mehr kosten und möglichst auch keine Ansprüche mehr stellen. So geht’s halt auch nicht.
Sehr richtig, was auch bei der kürzlichen Abstimmung hervorging.
Vor lauter Tabus kommt die Diskussion um dieses Thema kaum aus den Anfängen heraus! Bereits das Thema Todkrank oder nicht ist kaum in Worte zu fassen. Aber wir stecken ja viel weiter vorne im Thema schon unversöhnlich fest.Wenn ich die Zeitungsberichte der letzten Zeit ( Thema SBB ) so in dieses Thema geballt einbeziehe muss ich sagen das die Gesellschaft und nicht irgend eine Sterbehilfsorganisation an den Pranger gehört!
Je reicher ein Land, desto unpersönlicher der mitmenschliche Bezug. Ich selber will mir nicht vorstellen müssen, unendlich lange Tage an Schläuchen angeschlossen im Bett liegen zu müssen – und wofür? Es geht ja nicht darum, zu sterben oder nicht, sondern lediglich darum, wann endlich. Auch lehne ich persönlich eine Reanimation ab. Wie viele Mal soll ich denn sterben müssen?
Mit jedem Tier hat man Verbarmen, wenn es leidet und erlöst es friedlich.
Von jenen, die alljährlich den assistierten Selbstmord wählen ist der aller, aller, allerkleinste Teil an Schläuche angehängt. Die kann man nämlich abhängen und die Maschinen abstellen, und wenn man wirklich nur wegen den Schläuchen gelebt hat ist dann Schluss. Da braucht es kein Exit dazu. Und Sie werden auch nicht gegen Ihren Willen reanimiert. Einfach Patientenverfügung ausfüllen, Umgebung informieren und erreichbar aufbewahren. Im Portemonnaie zum Beispiel. Auch da braucht es niemand, der reinredet.
Ich gratuliere Daniel Foppa zu diesem Artikel! Er spricht damit alles aus, was auch ich befürchte.
Besteht nicht auch die Gefahr in unserer „Ueberflussgesellschaft“, dass das menschliche Leben nun langsam auch an Wert verliert? Das hat doch nichts mit kirchlicher Ideologie zu tun, wenn man gegen einen Suizid Stellung bezieht! Ich habe immer gemeint, zu der menschlichen Natur gehöre auch ein Ueberlebenstrieb, also bringt sich ein Mensch, egal welcher Religion, doch nicht einfach um. Ich finde diese langsame Akzeptanz und Ausübung eines begleiteten Suizides alles andere natürlich. Alleine schon diese Option kann Mut zum Leben abbauen.
Leider darf in unserer heutigen Welt bald alles nur noch super und effizient laufen – sonst weg damit. Diese Entwicklung stimmt mich schon bedenklich.
Alterssuizid ist nicht die Erfindung moderner Gesellschaft, Naturvölker haben es schon immer so gehalten. Wenn man zu schwach war zum Leben, dann starb man, etnweder mit Hilfe von Naturheilmitteln oder man nahm keine Nahrung zu sich. Warum nicht? Ich möchte den Wert meines Lebens selber definieren. Es geht dabei nicht nur darum jemanden nicht zur Last zu fallen sondern um meine Würde. Ich möchte nicht, dass mir jemand im Alter die Windeln anziehen muss oder mich füttern muss. Dann bin ich eindeutig zu alt geworden. Dann gehe ich lieber vorher.
„Zudem steht Exit unter Druck seiner Mitglieder, die Suizidbeihilfe auszuweiten – etwa auf Betagte, die zwar nicht todkrank, aber lebensmüde sind. “
Ergo: Diese Menschen sind sich offenbar vollauf bewusst, was sie da tun, schliesslich verlangen sies ja selbst und werden nicht von Exit dazu gezwungen.
ME wäre es weitaus klüger, sich vertiefter und zurückhaltender mit diesem sehr wichtigen Aspekt gesellschaftlicher Entwicklung auseinanderzusetzen, als einen Artikel zu publizieren, der auf dem Neutralitätsspektrum sehr nahe bei Null steht.
Bringen sie besser ein paar Interviews von Leuten, die bei E sind…sie werden sich wundern, wie klar und dezidiert diese Menschen argumentieren…
Es ist schon lange kein sublimer Druck mehr. Es besteht bei den Witschaftsführern und ihren politischen Zudienern längst die Meinung „unwertes“ Leben, weil nicht produktiv, loszuwerden.
Paradoxerweise sind die Entscheidungsträger oft um die 50 oder älter.
Aber sie wollen keine Stellenbewerber über 40. Bei kleinsten Problemen und Behinderungen müssen „Lösungen“ her, die oft nichts anderes sind als ein Abschieben. Über die Politik wird erbarmungslos Druck ausgeübt, um die Kosten der Renten und anderen Unterstützungsleistungen zu minimieren, bei gleichzeitigem Steuererlass für Milliardenkonzerne.
Ich gehe davon aus, dass Suizid bei wirschftlicher Überflüssigkeit durchaus ein Szenario ist, welches diese Herren und Damen als potenziell nützlich erachten.
Eigentlich ist die persönliche Meinung eines Redaktors nach so vielen Diskussionen wenig gefragt, da sich offensichtlich zwei unversöhnliche Lager gegenüber stehen: Die einen möchten einen würdevollen Tod, die andern warnen vor Auswüchsen oder haben religiöse Bedenken.. Beide Lager können achtenswerte Gründe für ihre Haltung anführen. Wäre es daher nicht angebracht, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen?
Selbstverständlich muss die Palliativpflege ausgebaut werden, was Exit schon immer mit seiner Stiftung Palliacura gefördert hat. Aber es gibt eben auch Menschen, die einem palliativ gut begleiteten Siechtum den Freitod vorziehen. Davon, dass bei Sterbewilligen keine ökonomischen Motive vorliegen, dafür muss der Freitodbegleiter sich in den Gesprächen mit den Patienten überzeugen. Was den von Foppa befürchteten sublimen Druck auf Alte und Kranke betrifft, sich gewissermassen, wie es schon jemand zynisch ausgedrückt hat, „sozialverträglich selbst zu entsorgen“, muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass in den 35 Jahren Exit die Zahl der begleiteten Suizide von 1 % auf 2 % aller jährlichen Sterbefälle gestiegen ist. Wahrhaftig keine Massenbewegung.
Danke Daniel Foppa! Wie aus den Kommentaren hier hervorgeht, haben wohl die Wenigsten mitbekommen, dass im Sommer 2013 ein stiller Beschluss zur Erweiterung der Euthanasie (die CH ist global das einzige Land, das diesen Begriff durch die Softversion „Sterbehilfe“ ersetzt) vonstattenging. Der Zugang zum delegierten Selbstmord an Exit für „Lebensmüde“ war offiziell in aller Stille legalisiert worden. Dieser Beschluss löste weltweit eine tiefe, breite Debatte aus. In der CH bis heute nicht. Konsumgut Mensch hat sich wohl rational damit abgefunden, dass es am Ende seiner Wirtschaftlichkeit wertlos nur zu Last fallen kann, oder dass sein Dahindarben unbesehen bleiben muss um nicht in Ungnade der Sozietät zu fallen. Die Deutschschweiz insbesondere hat dringenden Nachholbedarf im Menschsein.
Danke Herr Foppa für diesen Artikel. Höchste Zeit, dass man darüber diskutiert was ein Leben „lebenswert“ macht und inwiefern das die Entscheidung des Einzelnen oder seiner Umgebung ist. Dann würde dann auch auffallen, dass es auch das umgekehrte Problem gibt. Wer entscheidet im Altersheim, ob es sich „noch lohnt“ den Arzt zu rufen oder eine Lungenentzündung zu behandeln, oder eben nicht? Meist nicht der Betagte, der ist häufig gar nicht mehr entscheidungsfähig im entscheidende Moment.
Die Grossmutter einer Bekannten schrie in einem Sterbehospiz wochenlang vor Schmerzen, die sich trotz Morphium nicht mehr beherrschen liessen. Wem war damit gedient, der höllisch gequälten alten Frau, den weltfremden Moral-Ideologen oder gar Gott?
Keine Ahnung warum Herr Foppa so einseitig Stellung bezieht. Erfolgsgeschichte? Bei diesen kleinen Fallzahlen. Wieviele Suizide gibt es von Brücken, vor Eisenbahnzüge, etc. Warum werden Pflegeheimpatienten gegen Grippe durchgeimpft? Unterstützung der Pharma oder „Liebe“ zum Leben? Wir sollten endlich einmal das Thema gesamtheitlich angehen. Explodierende Krankenkassenprämien, aber nur das Beste ist gut genug!
Dank EXIT durfte ich mein 93-jähriges Mami mit Alzheimer, im Rollstuhl, Ängsten etc. begleiten und loslassen, ihre ältere Schwester haben wir verloren, mit Alzheimer wartet sie im Pflegeheim bis eines Tages … Für mich bin ich dankbar dass es EXIT gibt, in der Hoffnung dass ich den Dienst nicht beanspruchen muss.
@ Werner Graf
Es ist genau andersrum: Für die milliardenschwere Krankheitsindustrie sind die Alten ein Bombengeschäft: über 80% der gesamten Kosten eines Patienten fallen in den letzten ZWEI Lebensjahren an. Glauben Sie wirklich, dass sich die Bosse diesen Markt durch vorzeitigen Tod nehmen lassen. Das Pflegepersonal erhält nur lächerlich tiefe Saläre, damit für Chefärzte, Pharmabosse, Spitaldirektoren umso mehr übrig bleibt! Auch mancher Anti-Exitler ist weniger aus Ethischen, als aus egoistischen Gründen gegen den selbstbestimmten Freitod.