«Fuck off Europe»

epa05357965 English supporters at the Old Port of Marseille, France, 11 June 2016, before the UEFA EURO 2016 group B preliminary round match between England and Russia. EPA/GUILLAUME HORCAJUELO

«We are voting out»: Englische Fussballfans in den Scherben von Marseille. Foto: Keystone

Die Bilder waren hässlich, die Gesänge waren es auch. «Fuck off Europe, we are voting out», grölten die englischen Fans in Marseille. «Fuck off Europe, we are voting out»: Das ist verkürzt gesagt auch die Botschaft der Brexit-Anhänger im britischen Politbetrieb. Glaubt man der Mehrheit der Umfragen, rückt der Austritt Grossbritanniens aus der EU näher. Und vielleicht sind es nicht die grossen Themen, die darüber entscheiden, wie die Abstimmung vom 23. Juni ausgeht: die Einwanderung, die Angst vor der Rezession, der Wunsch nach alter Grösse. Vielleicht ist es der Fussball.

Am nächsten Montag kämpft England an der Fussball-EM um den Einzug ins Achtelfinal. Ob Wayne Rooney vorne trifft, ob Joe Hart hinten dicht hält: Es könnte einen Einfluss darauf haben, ob an diesem Abend nur eine Fussballmannschaft ausscheidet – oder ob drei Tage später der politische Brexit folgt. Das Datum für das Referendum hat Cameron bestimmt. Was er sich bei der Terminierung dachte, ist nicht ganz klar. Vielleicht hoffte er tatsächlich, dass siegreiche Engländer eine Euphorie auslösen würden. So wie 1996, als man Gastgeber der EM war. Noch heute erinnern sich die Engländer begeistert an jene Sommerwochen (die BBC machte daraus kürzlich eine herrlich kitschige Doku).

So gut war die Stimmung, dass der damalige Premier John Major sogar überlegt haben soll, im Fall eines Turniersiegs sofort Parlamentswahlen anzusetzen, um die aufstrebende New Labour von Tony Blair zu stoppen. Aber nach dem Halbfinal-Aus der Engländer gegen Deutschland wurde daraus nichts. Bereits 1970 hatte der Labour-Premier Harold Wilson ähnlich gedacht. Die Engländer fuhren als amtierende Weltmeister an die WM in Mexiko, das Land erwartete einen weiteren Triumph. Stattdessen verspielten die Engländer im Viertelfinal einen 2:0-Vorsprung gegen Deutschland. Vier Tage später war Wahltag, und Wilson (der kurz zuvor noch in allen Umfragen vorne gelegen war) wurde überraschend abgewählt. Ganz unbegründet sind die Hoffnungen der Politiker jeweils nicht. Dass der Sport Urnengänge beeinflussen kann, haben Forscher der amerikanischen Stanford University 2010 erstmals nachgewiesen.

Und jetzt also das EU-Referendum vom 23. Juni. Sollten die Engländer vorher tatsächlich ausscheiden, dann beginnt das Wehklagen, die Selbstzerfleischung, dann setzen die hässlichen Schuldzuweisungen ein – gefolgt von der grossen Depression. Ganz ähnlich, wie wenn es zum politischen Brexit käme. Was würde Cameron also für ein paar Tore von Rooney und Co. geben! Das hätte neben den atmosphärischen auch ganz praktische Vorzüge: Eine deutliche Mehrheit der englischen Fans ist laut einer Umfrage des Wettanbieters Coral für den Austritt aus der EU. Die Rechnung ist also simpel: Wer gegen den Brexit ist, muss hoffen, dass möglichst viele dieser Fans am 23. Juni noch in Frankreich sind – und nicht im Wahllokal.

9 Kommentare zu ««Fuck off Europe»»

  • Chris sagt:

    Mir stellen sich die Haare zu Berge, wenn Fussball einen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Wähler hat. Sind die Fussballfans so einfach zu beeinflussen?

    • Lori Ott sagt:

      Wenn Sie den Artikel bis zum Ende (überhaupt?) gelesen hätten, dann wüssten Sie dass es darum geht wo sich die Fussballfans (welche angeblich mehrheitlich für den Brexit sind) am Abstimmungstag befinden: in Frankreich an der EM, oder zurück in England? Falls sie schon wieder zuhause sein sollten weil die englische Nationalmannschaft ausgeschieden ist, zweifle ich allerdings daran dass die dann an den Urnen anzutreffen sind. Viel eher werden die dann ihren Kater pflegen!

  • Sandro Studer sagt:

    So herzig geschrieben, die Engländer haben wenigstens die Möglichkeit zur Wahl. Deutschland traut sich ja nicht seine Bürger zu fragen, hoffen wir der Wunsch der Queen möge in Erfüllung gehen. Es geht nicht immer nur ums Geld, welchen Wohlstand die EU den Südeuropäern gebracht hat sieht man ja.

  • Joseph Hillström sagt:

    Der Brexit und die Three Lions sind sich in so weit ähnlich, dass beide durch die ach so oft enttäuschte Sehnsucht nach vergangener Grösse motiviert sind. Sollen sie doch gehen und weiter darüber schmollen, dass vom „Empire über dem die Sonne niemals untergeht“ nur noch „die Insel über der die Sonne niemals scheint“ übrig bleibt.

  • Pitt Almeida sagt:

    Lieber Joe Hill: Ich hätts nicht schöner sagen können.

  • Charles Louis sagt:

    Sobald der sich prügelnde, verhetzte, gedankenlose Pöbel das Zünglein an der Waage spielt – ist die Demokratie / die Republik schon längstens verloren. „Brot und Spiele“ funktionierte auch im alten Rom – der Fall des gigantischen Imperiums liess nicht lange auf sich warten. Die Engländer haben den Vorteil, dass ihr „Imperium“ nur noch in den Geschichtsbüchern eine Rolle spielt – die Schmach haben sie freilich bis jetzt nicht überwunden…deswegen die armselige Hybris.

  • Marcel Senn sagt:

    Wäre Russland EU Mitglied, dann hätten die Vorkommnisse in Marseille vermutlich viele Briten zu einem Brexit bewegt!
    Aber so kann eine erfolgreiche nächste Woche der Three Lions auch den Brexit Berfürwortern Auftrieb geben indem es das Nationalgefühl stärkt. Die These dass ein paar wenige zehntausend Fans, die die Wahl verpassen das Zünglein an der Waage sein sollten ist doch etwas gewagt!
    Damals in Mexico 70 sind eh die meisten Wähler auf der Insel geblieben – wer konnte sich damals schon eine Reise ins ferne Mexico leisten – ganz wenige.

    • Charles Louis sagt:

      Es ist freilich absurd zu behaupten, dass ein paar tausend Fans das Zünglein an der Waage spielen könnten. Trotzdem stimmt die immer wieder übertriebene Erwartung an das englische Fussballnationalteam und die von vielen Brexitbefürwortern behauptete „Weltklasse“ ihrer Nation in so ziemlich allen Belangen (London als Finanzmetropole mal beiseite gelassen) schon bedenklich. So viel Realitätsverlust / Hybris rächte sich meistens in der Geschichte.

    • Lori Ott sagt:

      Dass ein paar zehntausend oder gar ein paar tausend Stimmen den Ausschlag geben ist nicht extrem wahrscheinlich, aber durchaus möglich. Die Idee ist amüsant, aber nur solange dieser Fall nicht eintritt. So wurde z.B. gerade erst vor ein paar Tagen in Peru der neue Präsident mit weniger als 40 tausend stimmen Vorsprung gewählt – unter anderem weil im 2. Wahlgang Soldaten und Polizisten nicht mehr zur Wahl zugelassen wurden!

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