Die Inflation wird überschätzt

Entscheidend ist, wer was konsumiert: Wer täglich Auto fährt, spürt Benzinpreisschwankungen stärker als ein Velofahrer. Foto: Christian Beutler (Keystone)
Hand aufs Herz: Wissen Sie, wie hoch die Inflation derzeit liegt? Falls nicht, können Sie beruhigt sein. Die Mehrheit der Bürger weiss es auch nicht. Das ergeben Untersuchungen sowohl in den USA als auch in Europa. Erstaunlich ist dabei, dass die Bevölkerung den tatsächlichen Anstieg der Konsumentenpreise enorm überschätzt.
Die Europäische Union erfasst monatlich in einer Umfrage die wahrgenommene Inflation in den 28 Mitgliedsländern. Das Resultat: Die Preise für Essen, Kleidung, Benzin, Restaurantmahlzeiten und andere Elemente des Haushaltskonsums steigen viel weniger stark, als die meisten Menschen denken. Im dritten Quartal 2019 glaubten die EU-Bürger im Durchschnitt, dass die Inflation 8,7 Prozent pro Jahr beträgt, während die tatsächliche Inflation nur 1,3 Prozent ausmachte. Nirgendwo liegt die Teuerung auch nur annähernd an dem vermuteten Wert: Ungarn belegt mit einer gemessenen Inflation von 3,5 Prozent in der EU den Spitzenplatz.
Die gleiche Situation erleben wir im Euroraum. In den 18 Staaten, die den Euro als gemeinsame Währung haben, nimmt die Bevölkerung eine Inflation von 7,2 Prozent wahr. Obwohl sie effektiv nur knapp 1 Prozent beträgt!
Mehr als nur Messprobleme
Woher kommt diese krasse Fehleinschätzung? Untersuchungen ergeben, dass sozio-ökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Je nach Alter, Ausbildung und Einkommen wird die Entwicklung der Preise und Lebenshaltungskosten unterschiedlich erlebt. So nehmen Geringverdienende einen durchschnittlichen Preisanstieg von 9,7 Prozent im dritten Quartal an, mit Spitzenwerten von 12 Prozent, wie die EU-Umfrage ausweist. Bei den Topeinkommen sind die Werte nur halb so hoch.
Wer nur eine Primarschulausbildung hat, geht von einer um ein Drittel höheren Preissteigerung aus als Personen mit Hochschulabschluss. Ältere Menschen schätzen die Preisentwicklung unterdurchschnittlich ein, Jugendliche überdurchschnittlich. Und selbst das Geschlecht spielt eine Rolle: Frauen sagen in der Umfrage aus, die Inflation betrage 8 Prozent, Männer geben nur 6 Prozent an.
Entscheidend ist, wer was konsumiert. Wer täglich mit dem Auto zur Arbeit und zurück pendelt, spürt Benzinpreisschwankungen stärker als ein Velofahrer. Und wer jeden Cent dreimal umdrehen muss, bevor er etwas kauft, reagiert preissensibler als Personen, die sich mehr leisten können.
Es gibt auch allgemeine Phänomene: Viele Menschen merken sich eher, wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung sich verteuert, und vergessen schnell, wenn deren Preis sinkt. Darüber hinaus ist es für den einzelnen Konsumenten schwierig, neben der Preisveränderung auch Qualitätsveränderungen zu berücksichtigen. Wird ein Handy teurer, dann liegt das zum Teil auch daran, dass das neue Modell einen besseren Prozessor, eine bessere Kamera etc. enthält. Bei der offiziellen Messung versuchen die Statistiker solche Qualitätsveränderung herauszufiltern, wenn sie die Preise vergleichen.
Und letztlich lässt sich nicht vermeiden, dass jeder Einzelne auch wichtige Kostenblöcke wie die Krankenversicherungsprämien oder die Immobilienpreise einbezieht, die in den offiziellen Konsumentenpreisindizes gar nicht oder nur teilweise erfasst werden.
Schattenboxen in der Europäischen Zentralbank
Die gewaltige Kluft zwischen gefühlter und effektiver Inflation sollte Notenbanken zu denken geben. Die jahrelangen Warnungen, dass die Inflation viel zu niedrig sei und eine Deflation drohe, scheinen in der breiten Bevölkerung nicht angekommen zu sein. Die Debatte über die Reform der Inflationsziele, die diese Woche in der EZB anläuft, wirkt vor diesem Hintergrund wie Schattenboxen.
Debattiert wird, ob das aktuell gültige Ziel, eine Inflationsrate «von nahe, aber unter 2 Prozent», eher 1,75 oder 1,9 Prozent bedeutet. Und darüber, ob es symmetrisch ausgelegt werden soll, will heissen, dass die Teuerung auch mal vorübergehend auf 2,5 Prozent steigen darf, nachdem sie schon so lange deutlich tiefer als 2 Prozent liegt. Wenn jedoch der Grossteil der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass die Teuerung 7 Prozent oder mehr beträgt, muss man sich fragen, ob die Notenbanken nicht den Kontakt zur Bevölkerung verlieren.
Wirtschaftsexperten rechtfertigten die grosse Abweichung in der Vergangenheit damit, dass immerhin die Richtung stets stimmte: Wenn die tatsächliche Teuerung stieg, dann stieg generell auch die wahrgenommene; ebenso fielen sie parallel zueinander. Dieses Jahr scheint selbst dieser Zusammenhang nicht mehr zu gelten. Wie die Grafik oben zeigt, nahm die offizielle Teuerung immer mehr ab, was die EZB dazu bewegte, den Leitzins noch tiefer ins Minus zu setzen (auf –0,5 Prozent) und ein neues milliardenschweres Anleihenkaufprogramm zu lancieren. Gleichzeitig hat die Teuerung im Urteil der Bevölkerung dieses Jahr angezogen.
Kritik an der Geldpolitik der Notenbanken
Die EZB verhängt seit Jahren einen negativen Leitzins, weil die Inflation zu niedrig ausfällt und Deflation droht, und sie sieht sich deshalb als Retter des wirtschaftlichen Wohlstands. In der Bevölkerung kommt das ganz anders an: Die persönliche Kaufkraft nimmt ihrer Meinung nach jährlich um 7 Prozent ab, weil die Preise in diesem Tempo steigen, und darüber hinaus liegen die Marktzinsen auf oder unter null, was die Einkommen zusätzlich drückt.
Vielleicht erklärt dieser Wahrnehmungsunterschied bei der Preisentwicklung, weswegen die öffentliche Kritik an der Geldpolitik der Notenbanken zuletzt so stark zunimmt. In der Inflationswahrnehmung gibt es viel individuellen Interpretationsspielraum, bei den Null- und Minuszinsen auf dem Sparkonto dagegen nicht. Notenbanken sollten das berücksichtigen. Der Spielraum für eine extrem ausgerichtete Zinspolitik ist eng begrenzt.
14 Kommentare zu «Die Inflation wird überschätzt»
„Wird ein Handy teurer, dann liegt das zum Teil auch daran, dass das neue Modell einen besseren Prozessor, eine bessere Kamera etc. enthält.“ Blöd nur, wenn man diese „Verbesserungen“ gar nicht braucht, dann ist die Inflation eben doch real.
Wann haben Sie zuletzt eine Digitalkamera gekauft? Für Durchschnittsknipser gibt es dafür nämlich nicht mehr viele Gründe, gell.
Selbstverständlich haben Sie vergessen, diese Einsparung in ihre Rechnung mit einzubeziehen. Falls Sie als ambitionierter Fotograf dennoch eine „richtige“ Kamera benötigen, können Sie ja dafür ein günstigeres Handy kaufen, die gibts nämlich immer noch.
Also, keine Inflation, sondern ganz einfach individuelle Konsumenten-Entscheidungen. Mann muss halt das neuste iPhone haben…
So ein Nokia Knochen kostete vor zwanzig Jahren einige hundert CHF, heute können Sie ein Smartfone für weniger als 100.00 CHF kaufen. Oder die Neuauflage des Nokia 3310 (mit Dual Sim) mit 2Mio Pixel Kamera, MP3 Spieler und einem Akku, der 22 Stunden telefonieren durchhalten soll). Gibt’s heute bei Conrad für CHF 57.95. (inkl MWST und Versand)
Für so wenig Geld gab es 1999 kaum ein einfaches Festnetztelefon zu kaufen. Das konnte telefonieren, wenn es an einer Schnur hing, und sonst nichts.
Wer will schon Fakten, wenn er Emotionen haben kann?
Was ist mit der Werteinflation? Ein Haus kostet heute das Doppelt von vor 20 Jahren. Macht ungefähr 5% pro Jahr.
Es gibt Häuser, die kosten weniger als vor 20 Jahren:
In de Schweiz stiegen die Preise der Renditeliegenschaften um 80%, die für Wohneigentum, insbesondere EFH’s um etwa 60%: Es gibt aber Häuser, die kosten heute die Hälfte dessen, was sie vor 20 Jahren kosteten. Die Preisentwicklung von Immobilien hat grosse Unterschiede, zwischen Toplagen grossen Städten und irgendwo hinter sieben Bergen.
Die Mieten sind in den letzten Jahren sogar eher gesunken, rund die Hälfte der Bevölkerung zahlt Miete.
Bin gerade wieder mal in Argentinien — Hey Leute da gibts noch wirklich echte Inflation – dies jeden Monat um die 2-3%!!! Und die merkt man wirklich, wenn man regelmässig dort ist wie ich, trotz Fachhochschulabschluss…die muss ich mir nicht einreden
Vielleicht nehmen Menschen, deren Einkommen real schon seit 10, 20 Jahren kaum- oder sogar gar nicht mehr steigt, die Inflation einfach anders wahr. Auf irgend etwas fusst ja diese verzerrte Wahrnehmung. Wer wenig verdient und so etwas wie Lohnerhöhungen nur noch vom Hörensagen kennt, muss schliesslich stärker auf sein Geld achten.
Seit Jahren pumpen Zentralbanken Milliarden ins System, und trotzdem löst das keine Teuerung aus. Da stellt sich die Frage, wo diese Summen hängen bleiben. Die Antwort ist einfach, wenn man jene Produkte sucht, welche einer starken Teuerung ausgesetzt sind: Immobilien an guter Lage, Aktien, Edelmetalle, Kunst. Damit wird auch schnell klar, welche Personenkreise vom billigen Geld profitieren. Um eine sinnvolle Wirkung zu erzielen, müssten diese Milliarden viel direkter zum Bürger gelangen. Sei das durch eine Erhöhung der AHV, staatliche Kinderzulagen, höhere Krankenkassenvergünstigungen oder ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Im Warenkorb zumindest der Schweiz kommen die Krankenkassenprämien nicht vor. Daher ist hierzulande die ausgewiesene Inflation massiv unterschätzt.
Dafür sind die Leistungen, welche von den Krankenkassen vergütet werden, im Warenkorb. Das sollte eigentlich beinahe den selben Einfluss haben.
Aus eigener Erfahrung:
Ich gehe regelmässig nach DE einkaufen. Dabei kaufe ich immer etwa dieselben Produkte im selben Geschäft. In den letzten 12…18 Monaten ist mir aufgefallen dass die Preise für diese Waren in 10-30% Sprüngen steigen. Spitzenreiter war ein Artikel einer Unilever-Marke dessen Preis sich, Mengenverkleinerung und Preiserhöhung zusammengerechnet, glatt verdoppelt hat.
Meiner Meinung nach haben eher die Statistiker ein „Wahrnehmungsproblem“ denn die Bürger.
Oder aber die Teuerung wird bewusst tiefgerechnet weil ja viele indexierte (Staats)Ausgaben wie Renten und Löhne daran hängen…
Sie bestätigen alles, was im Artikel steht! Selektive Wahrnehmung, sie sehen nur das, was sie sehen wollen. Preisreduktionen erkennen sie gar nicht.
Ich kann sie aber beruhigen: Preise für Aluminium und Kopfbedeckungen scheinen weiterhin auf sehr tiefem Niveau zu liegen…
@Schmidli: Durchschnittsargumente sind immer gut, wenn es darum geht naiven Konsumenten inhomogene Verteilungen schmackhaft zu machen…