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Interview zu Nackt-Performance im Zürcher Kunsthaus«Mit Glüstlern ist zu rechnen»

«Imponderabilia» – eines der Werke von Marina Abramović, das in Zürich am Kunsthaus neu eingerichtet werden soll, hier bei einer Ausstellung 2018 in Bonn – mit Lyn Bentschik (links).

Das Zürcher Kunsthaus sucht auf seiner Website mit einem Jobinserat nach Interessierten, die sich für die Arbeiten der berühmten Künstlerin Marina Abramović ausziehen und an ihren Performances mitwirken. Die Arbeiten seien körperlich sehr anspruchsvoll, heisst es im Inserat. Lyn Bentschik hat während fast zwei Jahren in mehreren Ausstellungen die Arbeiten von Marina Abramović performt. Ist der Lohn angemessen? Und wie anspruchsvoll sind die Performances von Marina Abramović tatsächlich?

Das Kunsthaus Zürich will Interessierten einen Stundenlohn von 28 Franken bezahlen – und das für Arbeiten, die laut Inserat körperlich sehr anspruchsvoll sind und für die man sich auch nackt zeigen muss. Ist das angemessen?

Bevor wir auf den Lohn eingehen, zunächst zur Nacktheit: Mir ist bewusst, dass ein Auftritt ohne Kleider für Leute, die nicht im Körper-Business arbeiten, immer etwas crazy wirkt. Für mich persönlich ist das nichts Besonderes mehr. Wenn ich auf einer Bühne auftrete, bin ich ständig mit meinem Körper ausgestellt. Ich selbst habe daher eine professionelle Beziehung dazu entwickelt im Sinne von: Mein Gott, einen nackten Körper haben wir ja alle unter den Kleidern.

Aber ist ein Stundenlohn von 28 Franken angemessen?

Die traurige Wahrheit ist, dass in der Kunst nach wie vor sehr viele auf professionellem Niveau unterbezahlt arbeiten. Es gibt zwar Richt- und Minimalgagen von verschiedenen Verbänden, die sich für eine faire Lohnpolitik einsetzen. Aber letztlich kämpfen die meisten, die in der Performance-Szene tätig sind, mit Geldproblemen. Wenn Leute nun sehr überrascht sind und den Stundenlohn von 28 Franken nicht in Ordnung finden, dann ist das natürlich super.

Warum?

Weil es Leute zum Nachdenken anregt, wie wir Kultur bezahlen und was sie uns wert ist. Wenn jemand zum erwähnten Stundenlohn an der Ausstellung mitwirken und eine der Performances übernehmen will, dann ist das eine individuelle Entscheidung. Offenbar stimmt es dann für die Person, die sich dafür entscheidet. Und so war das damals auch bei mir: Ich habe sehr viel aus den Arbeiten von Marina Abramović mitgenommen. Künstlerisch ebenso wie menschlich. Und ich konnte meine Arbeit in grossen Museen in Deutschland, in Dänemark, Norwegen und in Schweden zeigen. Denn auch wenn ich sozusagen «nur» die Performances von Marina Abramović performte, so war das ja dennoch meine körperlich-künstlerisch Arbeit, die da zu sehen war. Aber die Tatsache, dass es für mich stimmte, sollte nicht als Argument genutzt werden, um einen tiefen Lohn seitens Veranstaltende zu rechtfertigen – oder ihn zu entschuldigen mit der Ausrede, die Kunstschaffenden würden ja vom Ruhm oder der Plattform einer Kulturinstitution profitieren.

Sie haben fast alle Abramović-Arbeiten performt, die nun für Zürich geplant sind. Wie anspruchsvoll sind diese?

Ich komme aus dem Tanz, das ist eine Kunst, die von Bewegungen geprägt ist und oftmals auch physisch sehr anspruchsvoll sein kann. Körperlich herausfordernd sind die Arbeiten von Marina Abramović auch. Aber in ganz anderer Hinsicht: Sie haben sehr viel mit Ruhe und einem psychischen Durchhaltevermögen zu tun. Wie lange kann jemand zum Beispiel ganz ruhig stehen, wie lange kann ich sitzen, wie lange kann ich Reiskörner zählen?

Reiskörner zählen?

Das war Teil des Vorbereitungsworkshops, den alle Interessierten absolvieren müssen. Das war für mich eine ganz andere Körpererfahrung als im Tanz, wo ich als Performance-Persönlichkeit bis zu dem Zeitpunkt eher darauf abzielte, allen zu zeigen, wie toll ich tanzen kann. Auch das Kunstpublikum verhält sich ganz anders als etwa im Theater: Es ist nicht eines, das in eine Show reinsitzt und unterhalten werden will. Sondern es sind Leute, die visuelle Kunst gewohnt sind und die Ausstellungsräume selbstständig betreten und wieder verlassen. Wenn ich als performende Person sechs Stunden in einem solchen Performance-Setting war, schaffte ich es irgendwann nicht mehr, ein Ego oder eine Rolle aufrechtzuerhalten. Stattdessen wurde ich wie eine Zwiebel.

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In Marina Abramovićs «The House with the Ocean View» lebte Lyn Bentschik zwölf Tage und Nächte in einer Box – ohne in dieser Zeit zu essen oder zu sprechen.

Wie eine Zwiebel?

Ich schälte mich – Schicht um Schicht. Diese Verletzbarkeit ist für mich der Kern der Arbeiten von Marina Abramović, die in ihren Performances immer wieder andere Formen annimmt. Vielleicht beginnt man beim Performance der Arbeiten von Abramović zu heulen, vielleicht gerät man in eine Art Trance und findet es genial, vielleicht hat man Hunger. Das Publikum spürt die Verletzbarkeit der Performenden und fühlt sich davon angezogen. Dieser Austausch ohne Worte, die pure Präsenz im Miteinandersein, ist etwas, was in unserer Gesellschaft sehr rar ist und was die Leute unterbewusst stark anzieht.

Was heisst das?

Als performende Person wurde ich auch eine Art Katalysator dafür, dass die Leute sich ihrer eigenen Verletzbarkeit hingeben, die in unserer Gesellschaft sehr wenig Platz hat. Wir denken, wenn man sich als verletzbar und schwach zeigt, dann wird man gehauen oder unterdrückt. Tatsächlich ist es nach meiner Erfahrung mit den Abramović-Performances gerade umgekehrt: Die Leute entwickeln sehr rasch eine Empathie, wenn man sich verletzbar zeigt. So ist das übrigens auch bei Marina Abramovićs «Imponderabilia».

Das ist jene Performance, bei der zwei nackte Performende in einem Türrahmen stehen, zwischen denen sich die Besucherinnen und Besucher hindurchbewegen sollen. Auch diese Arbeit wird im Kunsthaus Zürich erlebbar sein.

Die beiden stehen so eng, dass man weiss, man wird sie berühren. Die meisten entwickeln dann sofort eine Art von Care, also von Sorge – oder gar Bewunderung, dass da zwei den Mut haben, sich nackt in einem solchen Setting zu exponieren. Nach meiner Erfahrung begegnen die meisten den nackten Performenden mit Respekt und versuchen sich so hindurchzubewegen, dass sie die Haut der beiden nicht kratzen. Hinzu kommt, dass man nur seitlich durchpasst. Das heisst, als Besuchende muss man sich entscheiden, wem von den beiden man sich zuwenden will. Auch das macht etwas mit einem.

Und was macht man, wenn da ein Glüstler auftaucht?

Mit denen ist zu rechnen. Denn leider ist es eine relativ logische Konsequenz, dass es in unserer Gesellschaft dazu kommt. Ich bin mir sicher, dass das Kunsthaus eine Sicherheitsstruktur schafft, um das Glüstlertum zu verhindern. Und wenn man als Performende im Türrahmen steht, ist man ja auch nicht gefangen, sondern kann Grenzüberschreitungen auch ganz klar kommunizieren.

Die beiden sind den Museumsbesuchern also nicht hilflos ausgeliefert?

Nein, ich finde es ganz allgemein falsch, in den Performenden Opfer des Kunsthauses, der Glüstler oder von Marina Abramović zu sehen. Als performende Person ist man auch in anderen Arbeiten immer in einer Art Sonderstellung: Man wird angeschaut, man wird erfahren. Bei Bildern ist es egal, wenn davor ein Glüstler steht, denn ein Bild ist ein Objekt. Aber bei der Performance-Kunst sind es echte Menschen. Ich hoffe, dass es alle Menschen irgendwann schaffen, Nacktheit von Sexualität in gewissen Kontexten – wie der Kunst – zu entkoppeln.

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In «Work Relation» von Marina Abramović und Ulay trug Lyn Bentschik unter Beteiligung des Publikums drei Stunden lang Steine hin und zurück. Auch diese Performance wird am Kunsthaus Zürich neu eingerichtet.

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Lyn Bentschik in Marina Abramovićs «Luminosity».

Passen die Arbeiten von Marina Abramović, die Härte und Durchhaltewillen verlangen, noch in unsere heutige Zeit, in der die Achtsamkeit so wichtig ist. Zum Beispiel die Performance «Luminosity», bei der eine nackte Performerin mit ausgestreckten Armen und Beinen während mehrerer Stunden auf einem Velosattel sitzt, was Schmerzen im Schritt verursachen kann und trotzdem durchgestanden werden muss.

«Luminosity» und andere Arbeiten sind teils vor mehreren Jahrzehnten entstanden, es sind also historische Werke, die im Museum auch so kontextualisiert werden. Für mich persönlich ist das Durchhalten, das Weitermachen und An-eine-Grenze-Gehen – auch an Schmerzgrenzen – etwas sehr Universelles, das sich von der Steinzeit bis heute hält, weil wir Menschen sind. Vielleicht teilen einige meine Ansicht, dass das Erleben von purer Präsenz sehr spannend sein kann in einer Zeit, die durch den Medienkonsum, von Handys, Uhren, Computern und anderen Geräten geprägt ist.