Ein Gastbeitrag von Tobias Escher*

Wieder das Aus im Champions-League-Halbfinal: Hat Pep Guardiola in den Augen der deutschen Experten wieder alles falsch gemacht? Foto: Tobias Hase (Keystone)
Düstere Stimmung im «Doppelpass», in Deutschlands selbst ernanntem Fussballstammtisch Nummer eins. Sendezeit will auch bei Sport 1 gefüllt werden, und kein anderes Thema bringt so viel Quote wie der FC Bayern. Woche um Woche bespricht die Runde die wenigen wichtigen und die vielen, vielen unwichtigen Themen, die an der Säbener Strasse entstehen. Und momentan gibt es eminent wichtige Themen rund um den FC Bayern zu besprechen.
Das Aus gegen Atlético in den Halbfinals der Champions League. Thomas Müller beim 0:1 im Hinspiel nur auf der Bank. Danach unentschieden gegen Gladbach, damit keine Meisterschaft drei Spieltage vor Schluss. Katastrophenstimmung. Pep Guardiola habe alles falsch gemacht, was ein Trainer falsch machen könne, so der Tenor. Moderator Thomas Helmer stellt die grosse Frage: «Wer coacht Pep?» Wer coacht also den Trainer, der in der Bundesliga sämtliche Rekorde gebrochen hat, der drei Meistertitel in drei Jahren gefeiert hat, der in jedem Jahr das Champions-League-Halbfinale erreicht hat?
Irgendwas ist schiefgelaufen zwischen Pep Guardiola und Fussballdeutschland. Der «Kicker» attestiert dem Spanier «krasse Defizite im menschlich-psychologischen Bereich» und wirft ihm vor, «ohne Empathie» zu agieren und nach «rein fussballspezifischen Erwägungen» aufzustellen. Guardiola, der Taktiktüftler ohne Herz – das ist das Bild, das Fussballdeutschland hat.
Nicht nur Guardiolas Auftreten ist den Deutschen nach drei Jahren immer noch fremd. Auch sein Spielstil. Die Sportjournalisten erklären Guardiolas Spielphilosophie selten. Er selbst gibt keine Interviews, speist Fragen auf Pressekonferenzen mit «Super, super»-Phrasen ab. Guardiola erklärt sich und sein Spiel nicht. Das ist medienpolitisch höchst unklug, sind viele deutsche Sportjournalisten es doch gewohnt, von den Protagonisten gesagt zu bekommen, wieso sie gespielt haben, wie sie gespielt haben. Guardiola macht sich jedoch rar und hofft, dass andere sein Spiel erklären – eine Hoffnung, die sich nach drei Jahren als recht illusorisch erwiesen hat.

Der Moment der Hoffnung: Robert Lewandowski (links) erzielt das 2:1, doch dabei blieb es – und das war zu wenig. Foto: Keystone
Guardiolas Juego de Posición ist heute das, was vor zwanzig Jahren die Viererkette war: eine grosse Unbekannte, die nur wenige Eingeweihte verstehen. Der grosse Johann Cruyff führte es einst bei Barcelona ein. Die Idee: Durch eine kluge Raumaufteilung gewinnt man Spiele. Guardiola gibt vor, wie die Spieler sich auf dem Feld zu positionieren haben, welche Laufwege sie wählen sollen, wer wann welchen Pass zu spielen hat. Dazu teilt er das Spielfeld in rund zwanzig Zonen ein. Es sollen sich nie zwei Spieler in einer Zone aufhalten, möglichst nicht mehr als zwei in einer vertikalen oder drei in einer horizontalen Linie stehen. Nur so könne man dem Spieler am Ball jederzeit mehrere Anspielstationen bieten und den Gegner dominieren.
Das vielleicht grösste Missverständnis betreffend Guardiola: Nicht das System entscheidet, welche Einzelspieler auflaufen, sondern die Einzelspieler bestimmen das System. Guardiola will seine Spieler in Situationen bringen, in denen sie ihre Stärken einbringen können. Bei Barça bedeutete dies, für Lionel Messi, Xavi und Andres Iniesta Räume im Mittelfeld zu öffnen. Die wichtigsten Bayern-Spieler sind jedoch keine Mittelfeldspieler, sondern Jérôme Boateng und Xabi Alonso sowie Douglas Costa, Franck Ribéry und Arjen Robben. Die ersten beiden bauen das Spiel aus der Tiefe auf, die letzten drei sollen für Durchbrüche sorgen.
Guardiola gibt feste Abläufe in seinem Positionsspiel vor, um sicherzustellen, dass die wichtigsten Spieler das tun können, was sie am besten können. Boateng soll möglichst viele lange Pässe spielen, Robben in Eins-gegen-eins-Situationen gelangen. Dazu passt Guardiola sein System an, ständig. Jeder Gegner hat ein anderes System, andere Schwachstellen. Deshalb braucht Guardiola unterschiedliche Formationen, unterschiedliche Spieler, unterschiedliche Laufwege, um erfolgreich sein zu können.
«Bring deine Spieler in eine Position, in der sie erfolgreich sein können», sagte Dallas-Mavericks-Besitzer Mark Cuban einmal. Das ist die Quintessenz von Peps Arbeit, die grosse Kontinuität in seinem Schaffen. Deshalb muss auch ein Thomas Müller mal auf der Bank sitzen, wenn Guardiola nicht das Gefühl hat, er könne seine Stärken gewinnbringend zur Geltung bringen.
In Deutschland hat sich Guardiola aber auch verändert. Der Spanier ist konservativer geworden, denkt defensiver. Die Absicherung der eigenen Angriffe ist ihm noch wichtiger als zu Barça-Zeiten. Die Bayern dominieren nicht in erster Linie über ihr Passspiel. Sie gewinnen praktisch jeden zweiten Ball nach einer Flanke. Es ist spanischer Juego de Posición mit einem grossen Schuss deutscher Tugenden. Kein Spieler verkörpert diese Veränderung in Guardiolas Wesen so stark wie Arturo Vidal, der Kämpfer, der diese Saison der Garant war für die starken Bayern-Momente.
Und doch schraubte Guardiola lange Zeit weiter an seinem Traum vom perfekten, formvollendeten Fussball. Nie kam ein deutsches Team so nah an dieses Ideal heran, nie hat eine deutsche Mannschaft den Gegner so dominiert wie Guardiolas Bayern beim 7:1-Erfolg gegen den AS Rom oder in den ersten sechzig Minuten des Hinspiels gegen Juventus Turin. Nicht unter Udo Lattek, nicht unter Ottmar Hitzfeld und auch nicht unter Jupp Heynckes.
Doch schon Franz Beckenbauer hatte als Nationaltrainer festgestellt: «Schön gespielt? So ein Schmarrn. Der Deutsche will den Erfolg sehen.» Guardiola wird an nichts anderem gemessen als am Triple, dem Gewinn aller drei grossen Wettbewerbe.
Dahinter steckt der grosse, ungelöste Widerspruch Fussballdeutschlands. Einerseits sagt der urdeutsche Ingenieursgedanke: Man braucht nur die richtigen Teile, um einen Mercedes zu bauen. Guardiola habe gefälligst die Bayern-Teile so zusammenzustecken, dass am Ende ein Triple dabei herauskommt. Verletzungen, Form, Matchglück – all das zählt nicht. Andererseits herrscht in Fussballdeutschland noch immer ein massives Desinteresse an der Frage, wie Trainer ihre Autos bauen. Man wird im «Kicker» nie das Wort «Juego de Posición» lesen und es auch nie im «Doppelpass» hören. So lässt sich eine Debatte über die Leistung eines Trainers am Ende nur anhand von Silbertrophäen führen.
* Tobias Escher ist der Autor des Buchs «Vom Libero zur Doppelsechs», Journalist und schreibt für das Online-Fussballmagazin «Spielverlagerung». Der Beitrag erschien zuerst im Blog Miasanrot.de, er wurde für den TA-Blog minimal aktualisiert.