Heulen erlaubt
Ich habe alle meine Männer weinen sehen. Das waren in jedem Fall dramatische, auch sehr intime Momente, denn Boys weinen ja bekanntlich nicht. Aufwühlende Gefühle geben sie in der Regel lieber gar nicht, als in flüssiger Form zu erkennen. Umgekehrt ist das nicht der Fall. Girls weinen leicht und häufig, je nach Typ und hormonellem Zustand.
Ich habe in meinen ersten Beziehungen immer kräftig geheult, wenn es Streit gab oder ich fürchtete, die Beziehung könnte in die Brüche gehen. Und wenn es in meinen Beziehungen lange, stabile Phasen gab – und ich sehr lange nicht weinen musste, begann ich mich zu fragen, ob mir nicht etwas fehlte. Ganz grundsätzlich glaube ich ans Weinen, es ist manchmal das beste Psychopharmakon.
Krokodilstränen als Höhepunkt der Disziplin
Menschen in allen Kulturen weinen, aber wer wann und weswegen weint, ist antrainiert. Wir lernen früh, dass Tränen bei anderen Mitgefühl wecken. Jungs weinen bis im Alter von etwa 13 Jahren genau so oft wie Mädchen, erst dann zeigen sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der häufigste Grund für Tränen ist, einen geliebten Menschen zu verlieren; aber natürlich werden Tränen auch zur Manipulation eingesetzt, mit den Krokodilstränen als einem Höhepunkt der Disziplin.
Nichts ist peinlicher, als vor Fremden zu weinen, im Restaurant oder im Büro und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Als Roger Federer nach seinen ersten grossen Siegen hemmungslos flennte, quittierten das viele mit Befremden. Am schlimmsten sind Wut-Tränen während einer Auseinandersetzung, in einer Sitzung oder mit dem Chef. Ich kenne Frauen, denen sofort die Stimme bricht und die Augen feucht werden, sobald sie sich aufregen. Und während wir gern akzeptieren, wenn ein Chef mal ein bisschen laut wird, wäre eine Chefin, die eben mal in Tränen ausbricht, undenkbar. Wenn die Tränen mal fliessen, ist der Kontrollverlust auch auf anderen Ebenen nicht mehr weit.
Tränen der Rührung
Man kann lernen, seine Tränen zu kontrollieren, nämlich indem man seine Gefühle kontrolliert – oder zumindest so tut, als hätte man alles im Griff. Und wenn Sie jetzt meinen, es sei schlecht für die Seele, seine Gefühle immer zu kontrollieren, gebe ich Ihnen recht. Auf der anderen Seite ist es besser für die Psyche, kontrollieren zu können, wann und wem man Gefühle zeigen will – und wann eher nicht. Allerdings weiss ich nicht, ob ich im Laufe der Jahre wirklich gelernt habe, meine Tränen zu beherrschen. Oder ob es mit zunehmender Reife automatisch einfacher wird.
Etwas anderes haben mir die Jahre zudem gebracht: Tränen der Rührung. Sie stellen sich in seltsamen Situationen, meistens unerwartet ein. Musik, Kunst oder Filme, die einen berühren, Dinge, die Kinder sagen, Literatur, manchmal sogar Düfte. Man weint und schüttelt sich und weiss gar nicht genau, warum. Ich mag diese Tränen am meisten. Sie sind der Schönheit und nicht dem Schmerz geschuldet. Ausserdem hinterlassen sie keine geschwollenen Tränensäcke.
28 Kommentare zu «Heulen erlaubt»
„Ich habe alle meine Männer weinen sehen. “ Oh, da würde eine Quantifizierung interessieren. War das n=5 oder n=50?
Und mich würde interessieren – waren die „Männer“ Männer oder Knaben (Boys)? Und was ist besonders daran, das Boys und Girls weinen? Gibt es irgendjemand der es nicht normal findet, dass Kinder weinen?
als mann braucht’s substantielle gründe zum heulen. beispielsweise wenns kein bier mehr hat im kühlschrank. alle andern motive sind höchst umstritten.
Neben dem Aufweichen der Geschlechtergrenzen gehört das gegenseitige Übersprechen von öffentlichem und privaten Raum zu den Leitsymptomen einer untergehenden Kultur.
Politiker, die Emotionen zeigen sind genauso schrecklich wie die Invasion wirtschaftlicher Kriterien und Begriffe in die Privatsphäre. Siehe solche Wortmonster wie ‚Familienmanagerin‘ oder ‚Care- Arbeit‘.
Na ja, Muttis Liebling, wenigstens hat Ihnen das mal wieder die Möglichkeit gegeben, Ihre Lieblingspredigt zu halten. Wenn man nicht sehen kann, dass es doch riesige Unterschiede gibt zwischen (in der Oeffentlichkeit) weinenden Politikern (Kohl wurde im Alter unsäglich rührselig, jedenfalls meinem Empfinden nach, ich würde ihm aber nie die Ehrlichkeit absprechen wollen) und Menschen, die auch in einer Menschenmenge extrem berührt sind (zuletzt habe ich das im Tower of London gesehen, als ein Veteran hemmungslos angesichts der dort ausgestellten Poppies im Gedenken an die Gefallenen des ersten WKs weinte und wir Dabeistehenden nicht anders konnten, als mitzuweinen).
Geschlechtergrenzen anhand des Weinenkönnens bzw -wollens festmachen zu wollen und dann mal wieder den Untergang
/2 unserer Kultur auszurufen – entbehrt nicht einer gewissen Komik! Oder ist zum Heulen, je nachdem, wie man gebaut ist……
Mein älterer Sohn hat mir mal in einer ruhigen Stunde erzählt, er habe 2 h lang Rotz und Wasser geheult – im stillen Kämmerlein -, als ihn seine damalige Freundin verlassen habe, danach sei es ihm besser gegangen. Mein jüngerer Sohn hat mich mal in einer ähnlichen Situation mit Augen angeschaut, so leidend wie ein angeschossenes Reh, fast hätte ich ihm geraten zu weinen. B e i d e sind heute glücklich in festen Verbindungen, weiss nicht, ob diese Erfahrung ihr Verhalten bez. Frauen-„Suche“ geändert hat. Frage an die Männer: Ist euch/Ihnen das nie passiert?
Ich war immer schon nah am Wasser gebaut und, je älter ich werde, desto rührseliger werde ich – mir ist das eher peinlich, bei Filmen, in Museen oder bei rührenden Szenen am Flughafen Tränen in den Augen zu haben.
Aber besser so als umgekehrt: eine meiner Grossmütter konnte nicht weinen und litt sehr darunter. Wir haben es uns damit erklärt, dass sie eine ausgesprochen traumatische Kindheit und schreckliche Erlebnisse im Krieg hatte, über die sie nie sprach. Wir glauben, dass ihr das Weinen regelrecht im Hals stecken geblieben ist. Sie konnte es sich nie wieder ‚erlauben‘.
Die Männer in meiner Familie (inklusive Mann und Sohn) weinen, sind aber nicht rührselig – sie machen das alle ganz selbstverständlich und das fand ich immer gut. Ein Mann, der sich das Weinen verbietet bzw für
/2 unmännlich hält, wäre mir suspekt.
Aber im Beruf habe ich es gelernt, meine eigene Rührseligkeit unter Kontrolle zu bringen – Tränen wirken oft manipulativ, auch wenn sie gar nicht so gemeint sind, deswegen habe ich sie mir ‚abtrainiert‘.
„Tränen wirken oft manipulativ, auch wenn sie gar nicht so gemeint sind, deswegen habe ich sie mir ‚abtrainiert“
Eben.
Und irgendwie dann eben doch unmännlich.
meines, wie immer – bescheidenen – erachtens, heulen männer meist, wenn sie sich selbst bemitleiden. sprich „die eigene fehlerquote“ ist ihnen über den kopf gewachsen und/oder zeitigt unerwartete konsequenzen, (mit welchen man(n) aber eigentlich rechnen musste). dem ist eigentlich nur mit einer eigen-watschen zu begegnen. damit man(n)s beim nächsten mal besser macht. in der konsequenz sind wir hier „besser“ als die frauen, welche mit diffusem geflenne auch nicht wirklich überzeugen.
Nicht doch! Finden Sie es nicht auch schön, von Schönheit berührt zu werden? Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mich dann immer leicht belustigt von aussen betrachte und denke: echt jetzt? Aber immer noch besser, als wenn ich weine, weil ich mir selber leid tue….
da ich mal wieder einen tick schneller bin, hier meine antwort zuerst. jein. „rührseliges weinen“ ist an der grenze der legitimität. erlaubt sei hier bloss eine (1!) unterdrückte träne, welche ganz schnell und ungesehen weggewischt wird. man bedenke – das motiv hier ist meist ein banales.
Seit ich ~16 warn habe ich glaube ich 1 mal richtig geheult und das lag an Enttäuschung mir selbst gegenüber.
Weinen wegen Schönheit? Ich weiss gar nicht wie einem das zum weinen bringen soll.
Enttäuschng/Trauer? Ja, in Extremfällen aber sonst, selbst wenn ich es zulassen möchte, da kommt einfach nichts. Höchstens die Augen werden ein kleines bisschen Wässrig.
Habe eine Arbeitskollegin die sofort in Tränen ausbricht inkl. stimme verlieren, knallroter Kopf. Ich kann jeweils nicht einmal beurteilen was genau Sie so aufwühlt (ich bin es nicht ;)).
Nun ein Gespräch ist dann nicht mehr möglich und ich versuch es 1-2 Wochen später jeweils noch einmal.
Sicher „interessant“ mit Ihr eine ernste Sitzung zu haben und nicht nur ein kleines Problem im Arbeitsablauf zu besprechen.
Und vielleicht hält Sie die Befangenheit gegenüber dieser wundersamen Empfindsamkeit gefangen im Genre snarky, cool und hüüchli Zynismus. Wäre schade….
Herr Roy Allen, ich bin nicht sicher, ob ich richtig verstehe: Ich sage doch, dass ich diese Empfindsamkeit sehr schätze?
Und doch schreiben Sie: „Finden Sie es nicht auch schön, von Schönheit berührt zu werden? Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mich dann immer leicht belustigt von aussen betrachte und denke: echt jetzt?“
Meine lieben Mitmenschen da draussen beiderlei Geschlechts. Das Weinen und Heulen ist eine der schönsten und menschlichsten Gegebenheiten die in der Natur von uns Menschen liegen. Es ist doch schön zu sehen, wenn den Emotionen auf natürlichste Weise freier Lauf gelassen wird. Schliesslich ist Mensch sein eines der grössten Güter die wir haben. Fazit – keine Scheue bei Emotionen…….
Einspruch: Zum Menschsein gehört (eigentlich!) auch die Vernunftbegabtheit und (refleksives) Bewusstsein. Die u.a. als Antagonisten der Emotionen diese moderieren können, ja müssen. Emotionen ständig und unkontrolliert freien Lauf zu lassen, verunmöglicht letztlich jede normale soziale Interaktion und würde direkt in eine Gesellschaft durchgeknallter Egomanen führen.
So positiv es sein mag, wenn Menschen in angemessenen Momenten und aus verschiedensten Gründen weinen können, wenn jemand das bei jeder Gelegenheit einfach rauslässt, wird es schnell mühsam. Leute etwa, die bei leisester Kritik oder Konflikt gleich in Tränen ausbrechen, sind unerträglich und letztlich ziemlich narzisstisch. Das gilt erst recht bei anderen Emotionen, etwa wenn Wut und Hass unkontrolliert wuchern..
PS: Die vermutlich schlimmste Spezies sind übrigens jene am Schnittpunkt zwischen Flennen und Wüten: Die Dauerbeleidigten.
Nur ‚gute‘ Menschen können weinen…
Heulen ist gesund. Aber nicht vor Frauen. Ich hatte einige Jahre mit Erschöpfunsdepressionen zu kämpfen und zum Teil die Kontrolle über meine Tränen völlig verloren. Viele Frauen empfinden das als Bedrohung weil man als Mann plötzlich nicht mehr als geerdet und Standhaft betrachtet wird. Habe ich genug erlebt. Wenn dann heul ich zu Hause wie ein Schosshund aber auf gar keinen Fall so das es andere Personen sehen.
Hach sind Freudentränen schön!!!
Hach sind Freudentränen schön!
Gefühle zu unterdrücken ist sicher schlecht.
Ignoranz bewirkt Konsequenz.
Weinen wirkt doch sehr befreiend.
Manipulativ Heulen ist eher unterste Schublade und kann durchschaut werden. Aufmerksame empathische Personen lesen Körpersprache und/oder stellen schlaue Fangfragen.
Ich habe zweimal (ein bisschen) geweint in den letzten 5 oder 10 Jahren: Bei Roger Waters „The Wall“ im Hallenstadion und beim Konzertfilm „Flight 666“ von Iron Maiden. Vor Freude geweint.
Unser Körper ist ein sehr komplexes System und Weinen, wie laut schreien, sich ggf. prügeln, laufen sind Notventile dieses Systems um wieder in den Normalzustand zu kommen.
Ich schäme mich nicht für weinen aber wenn ich schon weine, dann lieber oder nur ungestört. Das löst besser und ich fühle mich danach wie frisch gewaschen. Klarer im Kopf und erleichtert. Jeder kennt sicher dieses Gefühl. Das ist nichts neues. Es tut gut und auch wenn danach noch keine neue Perspektive in Sicht, raus ist es allemals, was einen bedrüclt hat. Weswegen auch immer man geweint hat, die Spannung ist weg und jetzt kann man es so nehnen wie es ist. Erinnerungen bleiben aber irgendwie gereinigt. Und wenn es nicht so richtig geht einfach so, dann als Hilfsmittel Film oder Musik und es fliessen lassen. Neue Erkenntnisse verinnerlichen, sie werden hilfreich sein bei der nächsten Begegnung ganz bestimmt.