Der Frühling und die Kunst, traurig zu sein

Traurigkeit ist das neue Frühlingsgefühl: Während draussen die Blüten locken, sitzen wir noch immer zu Hause. Illustration: Benjamin Hermann
Montag, 20. April
Es ist nicht die Saison, um traurig zu sein. Der Frühling zeigt sich derzeit von seiner charmantesten Seite, alles blüht und lockt. Aber es ist seltsam kompliziert, dies in der gegenwärtigen Situation zu würdigen. Deshalb ist es auch normal, etwas traurig zu sein. Normalerweise würde ein solcher Frühling die Herzen öffnen, Menschen würden in die Strassen strömen, die Frauen leicht geschürzt, die Männer unternehmungslustig. Man würde sich begegnen und das Leben feiern, lauschige Abende mit anregenden Gesprächen verbringen, vielleicht am See, die Augen auf die Perlenkette aus Licht gerichtet, die sich ans gegenüberliegende Ufer schmiegt.
Stattdessen sitzen wir zu Hause. Oder telefonieren. Oder entsorgen das Glas, was zum Highlight des Tages geworden ist. Ich will mich nicht beklagen, denn ich habe das Privileg einer schönen Wohnung und zweier grossartiger Mitbewohner, die zufällig auch noch meine Kinder sind, und ich kann von zu Hause aus arbeiten. Es ist schön, so viel Zeit mit meinen Teenies verbringen zu können, etwas vom wenigen Guten, das ich Corona abgewinnen kann.
Waren das Zeiten, als man noch küssen durfte …
Entsprechend versuche ich guten Mutes zu sein, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Verdrängen. Doch das geht nicht immer, da kann sich der Frühlingstag da draussen noch so sehr in Schale werfen. Irgendwo gibt es da eine Traurigkeit, irgendwo tief drin steckt sie. Manchmal kommt sie ganz beifällig daher, als Handlung in einem der Filme, die man sich jetzt anschaut. Ein Handschlag, man umarmt und küsst sich – Hallo? Waren das noch Zeiten, als man das durfte. Sie sind noch nicht lange vergangen und scheinen so, so weit weg.
Dieses Bewusstsein schmerzt. Der Verlust ist allgegenwärtig. Mir fehlen die Restaurants und die Bars, die Menschen, die bevölkerten Strassen, die Leichtfertigkeit, mit der wir miteinander umgingen. Ich denke an die Menschen, die in den Restaurants und Bars gearbeitet haben. Was werden sie nun tun? Ich denke an Konzerte, die nicht stattfinden werden, und an all die Musiker, die nicht mehr arbeiten können. Ich vermisse die Ausstellungen und Museen, ich vermisse die Kunstausflüge mit meiner Mutter. Noch sind wir wohl zu verängstigt, um das richtig wahrzunehmen, aber diese Art von Kummer und Abschiedsschmerz wird uns wohl in all ihren Ausprägungen wohl noch lange umtreiben: verneinen, runterspielen, anprangern, nachtrauern und schliesslich akzeptieren.
David Kessler, der als Mitautor von Elisabeth Kübler-Ross’ Standardwerk zum Trauern ein Experte auf dem Gebiet ist, drückt es in einem Interview mit der «Harvard Business Review» so aus: «Wir wissen, die Welt hat sich verändert, wir wissen, es ist nur vorübergehend, aber so fühlt es sich nicht an. Wir begreifen, es wird alles anders sein. (…) Der Verlust der Normalität, die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, der Verlust sozialer Bindungen. Das trifft uns, und wir trauern. Kollektiv.» Wenigstens haben wir den Frühling, der lässt sich nicht beeindrucken.
Corona-TagebuchDurch Homeschooling und Homeoffice sind sich Eltern und Kinder zurzeit so nahe wie nie. Im Mamablog berichten wir von Montag bis Freitag um 17 Uhr vom ganz normalen Wahnsinn aus dem Lockdown: von Kindern, Schule, Arbeit, Patchwork, Beziehungen, Social Distancing und kleinen Errungenschaften im neuen Alltag. Den nächsten Eintrag von Michèle Binswanger lesen Sie am kommenden Donnerstag.
Kommentarfunktion deaktiviert.