«Die Verunsicherung ist gross, auch bei Kindern»

Was kann ein Kind selber gegen das Virus und gegen die Hilflosigkeit tun? Beispielsweise Hände desinfizieren. Foto: iStock
Frau Nicoletti, für Erwachsene ist der aktuelle Ausnahmezustand belastend. Was macht die Situation mit Kindern?
Sie verursacht auch bei Kindern Unsicherheit. Auch sie merken ja, da geschieht Grosses, Wichtiges, das nicht mehr kontrollierbar ist. Auch ihr Alltag wurde auf den Kopf gestellt, Verzicht und Anpassung waren gefragt. Und werden es weiter sein. Die meisten Kinder sind aber sehr anpassungsfähig. Bei Kindern jedoch, die vorbelastet sind, die zum Beispiel bestehende Ängste haben, können sich diese verstärken, oder es können neue hinzukommen.
Wie sollten Eltern Kinderängsten rund um das Coronavirus begegnen?
Sprechen Sie mit dem Kind und nähern Sie sich gemeinsam seiner Angst an. Fragen Sie: Wovor genau hast du Angst? Wann und wie spürst du das? Danach kann man gemeinsam überlegen, was helfen könnte. Ein gutes Mittel ist, dem Kind zu erklären, was es selbst tun kann, wenn es z.B. Angst davor hat, dass sich Angehörige anstecken. Also die Hände waschen und die Grosseltern nur per Videochat sehen. Dieses Gefühl der eigenen Wirksamkeit kann jenem der Hilflosigkeit entgegengehalten werden. Wichtig, übrigens bei allen Ängsten, ist zudem immer, dass es nicht darum geht, sie einfach wegzuhaben.
«Angst wird zu Unrecht immer nur negativ besetzt.»
Wie meinen Sie das?
Die meisten Eltern möchten, dass ihre Kinder keine Angst haben. Das kann dazu verleiten, dem Kind die Angst ausreden zu wollen. Es muss sie aber erleben, um einen Umgang damit zu lernen. Es hilft, wenn es spürt, dass seine Angst ernst genommen wird und man ihm beisteht. Das gilt für alle kindlichen Ängste. Es gibt ja zahlreiche, teils klassische, wie das Fremdeln bei Babys, die Trennungsangst ab etwa einjährig oder später Ängste vor Dunkelheit, Geräuschen, Tieren, noch später vor bösen Menschen, Monstern und so weiter. Solche Ängste haben auch damit zu tun, dass Kinder in ihrer Entwicklung immer wieder Vertrautes aufgeben müssen. Das kann verunsichern. Doch Angst wird zu Unrecht immer nur negativ besetzt. Sie warnt uns ja auch oft vor Gefahren.
Zum Beispiel jetzt vor einer Ansteckung mit dem Virus oder seiner Verbreitung?
Gewissermassen. Angst oder zumindest Respekt vor der Gefahr lässt einen ja auch Massnahmen, wie jetzt Abstand halten oder Hände waschen, einhalten. Dabei erfährt man sich als wirksam, als weniger hilflos, weil man etwas tun kann.
Was, wenn das noch nicht ausreicht, um der kindlichen Angst Einhalt zu gebieten?
Eltern können das Kind auch stärken, indem sie ihm aufzeigen, was es schon alles gemeistert hat. So wird dem Kind deutlich, dass es nicht nur Angst hat, sondern auch mutig ist. Hilfreich sind auch Heldengeschichten, Entspannungsübungen oder gemeinsam erfundene Lösungen, wie z.B. eine Anti-Monster-Lampe, die Monster vertreibt. Kontraproduktiv wäre es dagegen, Ängste oder angstauslösende Situationen zu ignorieren oder zu vermeiden. Dies lässt die Angst eher wachsen. Besser ist, sie zu thematisieren und sich ihr zu stellen, wenn nötig in Mini-Schrittchen. Und letztlich sollte auch nicht vergessen gehen, dass Ängste zur kindlichen Entwicklung dazugehören.
Doch wie merkt man, wenn das Ausmass der Angst die Grenze der Normalität überschreitet?
Das ist nicht einfach. Angst ist als Kontinuum zu verstehen, d. h. die Grenze zwischen gesund und behandlungsbedürftig lässt sich nur unscharf ziehen. Wenn aber Ängste das Leben des Kindes dominieren und ihm so im Weg stehen, dass es sich nicht mehr gut entwickeln kann, wenn es beginnt, alltägliche Dinge zu vermeiden – beispielsweise wenn es unter normalen Umständen nicht mehr zur Schule gehen will –, dann sollte man handeln und sich professionelle Hilfe suchen.

«Kinder sind sehr resistent»: Caroline Nicoletti ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Foto: PD
Um auf die aktuellen Umstände zurückzukommen: Wie kann sich die gegenwärtige Isolation auf das psychische Wohl von Kindern auswirken?
Nun, wir sind ja nicht grundlos isoliert. Je besser die Kinder die Gründe verstehen, umso einfacher ist es auch für sie, damit umzugehen, sie zu akzeptieren. Aber Fakt ist: Durch die Isolation fehlen wichtige soziale Beziehungen, es fehlt Ausgleich.
Könnte sich dies negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken?
Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir nicht wissen, wann wieder Normalität einkehrt. Je länger die Situation andauert, umso mehr wird sie die Entwicklung beeinflussen. Doch Kinder sind sehr resistent. Das Erlebte wird zu ihrer Geschichte gehören, muss aber nicht zu Defiziten führen. Entsprechenden Risiken können Eltern zudem gut entgegenwirken: Es ist ja die physische Distanz, die zu wahren ist, nicht die emotionale. Wer sich nun über andere Kanäle verbindet, kann ein Gefühl von Nähe und Austausch aufrechterhalten. Wichtig ist daher, im Kontakt zu bleiben, telefonisch, per Whatsapp, über Videochat oder auch über Briefe. Übrigens gerade auch für Jugendliche. Sie befinden sich im Ablösungsprozess und werden jetzt zurückgeholt in die Familie. Ihr Freundeskreis fehlt ihnen, aber immerhin können sie verbunden bleiben. Ein Glück, haben wir die heutigen Möglichkeiten.
«Vielleicht entsteht gar ein neuer Blick fürs Wesentliche.»
Was können Eltern tun, um die Kinder in ihrer Entwicklung auch unter diesen erschwerten Bedingungen weiter zu unterstützen?
Neben dem Aufrechterhalten von Kontakten ist es sinnvoll, einen geregelten Tagesablauf einzuhalten. Äussere Struktur gibt auch innere Struktur und Sicherheit. Weiter vermittelt es Kindern Geborgenheit, wenn sie nun hin und wieder eine Extraportion Zeit und Aufmerksamkeit erhalten. Vielleicht sind sie auch anhänglicher, suchen mehr Körperkontakt. Diese Bedürfnisse sollte man erfüllen. Für grosse Entwicklungsschritte oder Erziehungsmassnahmen ist jetzt nicht der geeignete Moment.
Eine Extraportion Zeit zu geben, könnte – gerade jetzt – für viele Eltern schwierig sein. Nun, da sie – neben Homeoffice oder dem Einsatz in sogenannt systemrelevanten Berufen – auch noch Homeschooling schultern …
Das ist richtig, und natürlich ist der Schulstoff wichtig. Man sollte sich aber auch vor Augen halten, dass jetzt nicht ideale Voraussetzungen gegeben sind, um möglichst viel neuen Schulstoff zu lernen, und dass es anderen genauso geht. Hilfreich sind zudem auch hier Strukturen, die definieren, dass jetzt Zeit zum Lernen ist, dann Zeit zum Spielen, und so weiter. Auch ein Blick auf positive Seiten der Situation ist nicht verfehlt: Kinder können vielleicht neue Fähigkeiten erlernen, zum Beispiel im Haushalt. Eltern erleben ihre Kinder anders. Vielleicht entsteht gar ein neuer Blick fürs Wesentliche.
«Alles, was beim Durchhalten hilft, ist in Ordnung.»
Und wenn die Nerven trotzdem blank liegen?
Sinnvoll kann ein Stopp-Zeichen sein, das alle benützen dürfen. Und dann rennt man z.B. einmal um den Block. Bewegung fördert auch das psychische Gleichgewicht. Auch sollte keine Gelegenheit ausgelassen werden, sich Gutes zu tun, auch gemeinsam. Zusammen ein Spiel spielen oder Schoggikuchen backen, ist für alle wohltuend. Wer zudem ständig die Corona-News checkt, kann mit News-Auszeiten für etwas Ruhe sorgen. Und wenn Eltern eine halbe Stunde Pause brauchen, dürfen sie den Kindern auch mal sagen: Ihr könnt etwas im Fernsehen schauen oder gamen. Natürlich soll die Medienzeit nicht überborden. Aber im Moment leisten wir alle viel, übrigens auch die Kinder. Da ist Nachsicht uns selbst und ihnen gegenüber gefragt, und es gilt: Alles, was beim Durchhalten hilft, ist in Ordnung.
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3 Kommentare zu ««Die Verunsicherung ist gross, auch bei Kindern»»
Toller Blog.
Ausser: Wie wäre es mal mit Mutti Vati Blog?
Grundsätzlich ist der Stossrichtung des wertvollen Interviews beizupflichten. Angst ist per se nichts schlimmes. Im Gegenteil, wäre aktuell etwas mehr Angst bei Erwachsenen sogar angebracht. Nach wie vor gibt es die Nichtverstehenwollenden, „alles nur aufgebauscht“, „was für ein Theater“, „Pharmamafia“…. Und dies nur, weil das Grauen bei uns (noch) nicht sichtbar ist. Gerade beim aktuell zauberhaften Frühlingswetter wirkt all das für zuviele ziemlich virtuell-entrückt. Und die, die mit den täglich Sterbenden zu tun haben, dürfen nicht darüber reden.
Wer sich erinnert: Die besten HIV-Präventionskampagnen waren in den 80er Jahren, als HIV aufkam. Es gab eine gute Kampagne, aber v.a. hatten die Leute Angst. Angst, im Ggs. zu Panik, ist ein guter Ratgeber in Phasen wie der aktuellen.
Generell sollte man Kinder ernst nehmen. Ob sie nun aktuell wegen CV Angst haben, vor der Hexe im Kleiderschrank oder dem Monster unter dem Bett. Jetzt ist es an uns Erwachsenen den Kindern zu zeigen, das Angst manchesmal unbegründet ist oder einem ein anderes Mal auch hilft, besser aufzupassen. Man ist seiner Angst nicht hilflos ausgeliefert.