Archiv für die Kategorie ‘Nachtleben & Freizeit’

Kassettenliebe

Urs Rihs am Samstag den 8. Dezember 2018

Ferrophil geht auch fremd, abseits der Schiene – dafür auf Magnetband gespult. Je mehr Eisenanteile (Fe) desto bandgesättigter, desto fett und warm im Klang. Tonbänder, ich spreche von der Kompaktkassette und ihren Vorzügen. Type I, II, III und IV, qualitativ zunehmend metallpulverbeschichtet in numerisch aufsteigender Folge, und rauschreduzierter. Nerdtalk-Alarm?

Eine kleine Gilde erfreut sich noch immer des Zeremoniells. Musikstücke veröffentlichen auf Tape.
Was für Steroid-Indie-Bands auf ihrem schändlichen Weg weiss der Teufel wohin als Werbegimmick missbraucht wird, trägt im Untergrund den Heiligenschein einer vasa sacra, eines heiligen Geräts oder Gegenstands – Die Kompaktkassette schöpft Geist aus ihrem Vermächtnis als hyperdemokratisches Medium, gewachsen in den 80ern mitsamt einem ganzen Industriezweig.
Die intuitive Handhabe, ihre Erschwinglichkeit und vor allem das Novum der individuellen Gestaltbarkeit – als Mixtape – prädestinierte sie als Katalysator der Popkultur und als Petrischale des Untergrunds.

Auch in unserem Städtchen wird gerne und mit viel Leidenschaft an Magnetband rumgebastelt, darauf gemixt und kompiliert. Releast auf obskuren Labels häufig und mit ständig wechselnden Alias der Künstler*innen. Damit ein entnebelnder Blick schwerfällt und viel eher auf die Schleier- beziehungsweise Schutzfunktion einer Subkultur verwiesen wird. Als Blende vor dem Hauptstrom und als Würgereflex gegen den damit einherschwimmenden Selbstdarstellungsdrang überschärfter und somit quasi-pornografischer Qualität.

Kassetten bergen Dignität.
Heute Samstag erscheint «Soul Tape One» von «Azul Loose Ties», im Selbstvertrieb versteht sich, auf seinem eigenen Label «Underground Soul». Ein bedachter House-Head, welcher am Ufer des Wohlensees in einer Scheune an analogen Synthesizer rumtastet und dem Herzen guttut. Nicht nur als DJ und Produzent, sondern auch als Freund.

Das lokale Kassettenschaffen – eine kleine Auswahl, ohne Anspurch auf Vollständigkeit, versteht sich. Check the linx if you hungry for.

Abyssinia Social Club

Urs Rihs am Mittwoch den 14. November 2018

Dort beim Beaumont-Kreisel, fast am Ende der Tramlinie Nummer 3, vor dem Weissenbühl –
und dahinter beginnt die Prärie.
Der Abyssinia Social Club, ein urbaner Aussenposten, aber problemlos in zehn Minuten vom Hauptbahnhof her zu erreichen.
Ein offener Ort zum Sitzen, zum Lauschen – am bodenständigen, sicher drei daumenbreiten Tresen. Büezerbeiz früher, ist es jetzt eine Bar, wo neben dem Alltag auch Kunstwelten Platz haben sollen. Musik natürlich, DJs vor allem – and beyond.
Ein kleines Laboratorium für Experimentelles und nichts weniger als ein Treffpunkt,
für echte Menschen: Das ist der Abyssinia Social Club.

 

Klingt nach Werbung im Blog? Ist es auch! Für solche Örtchen immer.

Heitere Fahne und das schon fünf Jahre!

Urs Rihs am Donnerstag den 8. November 2018

«Each one teach one» so die Losung, die dieser Kulturoase, dieser «Idealistenkiste» am Fusse des Hausbergs, am nächsten kommt.
Gib weiter, was anderen vergönnt war und mach es nicht mit dem Dirigierstock, sondern mit gereichten Händen. Auf dass soziale Unterschiede nivelliert gehören und dafür, dass individuelle Besonderheiten von einem Spitzlicht gestreift werden und somit als Eigenheiten zum Leuchten kommen.

Eigenheiten, welche sich im Gesellschaftsdiskurs sonst mindestens als Hemmnisse manifestieren, als Störfaktoren, als starke Widerstände bezüglich des Mitbestimmungsrechts der eigenen Bedürfnisse. Diesem Mitbestimmungsrecht, welches so zentral liegt, um das eigene Freiheitsgefühl entfalten zu können.

Das aktuelle Programm zu den Festivitäten, welche diesen Freitag und Samstag vonstattengehen werden, findest du hier.

Andere, hinter dem Wald, sprechen noch immer von Behinderungen, physischen, psychischen oder geistigen Charakters. In der Heitere Fahne heissen Leute, die darunter leiden – sind wir das nicht alle? – aber längst Menschen mit Besonderheiten. Und genau diese sollen in das Projekt so sehr als möglich und bereichernd eingebunden werden, beim Kochen, Organisieren – beim Erschaffen im wortwörtlich «übertragenen» Sinne. Each one teach one.
Mit dieser Haltung und mittels multi- bisweilen interdisziplinären Programms zwischen Theater, Musik, Tanz, Cabaret und Gastronomie, giesst dieses Kollektiv von plus ou moins 60 Seelen einen integrativen Sockel in die Kulturlandschaft, welcher eine Leuchtturmfunktion einnimmt, am Fusse des Hausbergs.

Nirgends sonst in der Stadt wird mit ähnlicher Strahlkraft und Aussenwirkung das Mantra der Niederschwelligkeit gelebt und geliebt, ohne dabei vom Korsett des Dogmas eingeschnürt zu werden – dieser Schraubzwinge des Eifers. Vielmehr regiert das Lustprinzip die Heitere Fahne und darum ist es ein Ort des Wohlbefindens, des Schön-sein-dürfens; aber unter Aussparung des liebeszersetzenden normativen Blicks, welcher der Hauptstrom, mit seinem Schlepptau an Gräuel, sonst in unsere Gehirnrinden meisselt.
Hier hat man begriffen, dass Zugänglichkeit nicht bloss von ökonomischen Faktoren wie Preisen abhängt, sondern viel mehr auch von diesem diffusen Begriff des Bildungskapitals, welcher verbandelt ist mit Herkunft, Kinderstube und all diesen soziökonomischen Faktoren.

Long story short: Ultra progressive Sache und willkommen sind alle – am Fusse des Hausbergs – draussen bleiben muss nur der Zynismus.

Dafür und dass diese vereinsbasierte Institution seit nunmehr fünf Jahren – welche gefühlt im Flug vorbeigegangen sind – besteht, dafür heisst es jetzt die Tassen zu heben, zu klatschen, zu umarmen, zu küssen und zu hoffen, dass die Idealistenkiste genauso weiterrumpelt, fünf weitere Jahre mindestens oder warum nicht gerade bis zum bitteren Ende.

Die Heitere Fahne – ein utopischer Ort und die Utopie dem Eskapismus bekanntlich artverwandt, das einzige Problem ergo: Sich darin zu verlieren und den Realitätsbruch gänzlich herbeizusehnen, nichts mehr mit der bösen Welt am Hut haben zu wollen. Weiterdampfen auf der Terrasse und gar nicht mehr hervorlugen mögen, hinter der trügerisch konkordant wirkenden Fassade des alten Brauereiwirtshauses – am Fusse des Hausbergs.

 

Ich frage mich, «Und was genau wäre so schlimm daran?»

Herrgottsiech …

Urs Rihs am Donnerstag den 1. November 2018

… der Baze: Hegemonialgeerdet und breitbandstörrig wie immer – tauft am Freitag sein neues Album im Dachstock. Gott …

… verreckt, gottverlasse und gottlob – Baze spielt «Gott».
Ein Hoffnungsstück, Hoffnungsstücke? Aus den Bruchstücken von früher wer weiss?
Wir auf jeden Fall dürfen Hoffnung fassen. Denn die neue Scherbe von unserem menschgewordenen Harmonium leuchtet warm, klangfarblich betrachtet, mit unerhört viel Luft zwischen den Takten und Zeilen.
Luft zum Denken, Luft zum Atmen – das gibt Platz, Raum um Abstand zu gewinnen. Von der Welt,
vor sich selbst.

Das ist vielleicht das Wohltuendste, das Wichtigste um zu genesen.
Von den Wunden, die der Alltag schlägt. Baze schlägt zurück mit seiner Kunst.
Und das ist gut so.
Gottverdammt gut so.

Support nicht vergessen, aus dem Osten – Dave Eleanor, fluide Bassmusik, die einen durchströmt wie ätherische Essenzen.

Zu allem sag ich Ja
und Amen.

“Gott” von Baze – oder das Phänomenologie auch klingen kann.

Underground Fight League

Urs Rihs am Donnerstag den 25. Oktober 2018

 diese Kampfnacht letzten Samstag in der Grossen Halle – wer hat nicht davon gehört?
Aber hat wer davon berichtet?
Und gibt’s das KSB eigentlich noch, dieses Kulturblog?
Na dann mal los hier.

Das erste Mal hatte sich dieser Untergrundzirkus, welcher zu einem kompletten Hype in der ganzen Stadt wurde – also in den besetzten Häusern und Garagen, den zugewandten Wagenplätzen, rauchigen Küchen und wo der Filz halt so sitzt und kifft – der ganzen Stadt eben – in einem stinkigen Kellerloch zugetragen. Einem Disco-Keller, dem «Rabbithole» im Osten.
Dort wo Jahre zuvor noch Ratten die ganzen Cola-Vorräte auffrassen und den Boden mit einem Teppich von Nagerscheisse überdeckten – different story – unterdessen hält man den Stall aber einigermassen besenrein – anyway …

Die Meldung hatte schnell die Runde gemacht: «Die Jungen ziehen so ein Box-Ding durch, das wird ill, krank!» und die Begeisterung war greifbar, schon Wochen vor dem Abend sprach die halbe Stadt darüber.

Lauter Jungskram? Vielleicht, aber eben auch Kämpfe, klare Regeln, Mut und vor allem dieses ominöse «Eins gegen Eins», ohne Ausrede.

Das war im Oktober 2017, bereits ein weiteres Scheissjahr her, und vor allem vor dem Atomsommer – diesen letzten Sommer, welcher unsere Birnen schon ohne Schläge komisch gummig gebrüht hat, aber irgendwie auch gierig machte.
Auf mehr so Spinnerzeugs.

Genug der endlosen Konzerte, der Festivals, der alternativen Fussballcups oder was weiss ich was sonst an ausgeleiertem Szenegedöns – etwas Neues musste her, und etwas Grosses.

Ein Momentum brachte der Atomsommer also auch – für die Jungen*. Die geöffnete Grosse Halle «Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit» und diese Idee:
Underground Fight League performance.

Ein dezidiert nichtkommerzieller Anlass.
Dezidiert antirassistisch, antianti-queer, antisexistisch – szenenimmanent mittlerweile alles, godbless. And did I mention selbstausbeuterisch?

Ich wollte folglich dabei sein – an der Schreibmaschine und hatte Feuer gefangen für die Sache, seit dem ersten Wind davon.
Der erwischte mich bei einem Bier in der ZAR, als es noch viel heisser war und ich dazu meine kurzen, abgeschnittenen 501 verwettete, aber egal –

Ich hatte mit den Jungen also schon Wochen vor den Kämpfen ab und an mal Kontakt. Und vor allem während dem Aufbau. Dabei sah ich im Speziellen die Augenringe von Specialguest M.* wachsen.

Der hatte , Jahr zuvor noch und im Kellerloch, ein hartes Stück Boxschule lernen müssen, die praktische Bedeutung des Begriffs «Technisches K.O.».
Charaktergestärkt konzentriert er sich jetzt mehr aufs Zimmern mit Holz, und ganz allgemein aufs Organisieren.

Zu verbranntem, bitteren Kaffee – aus einem von Stahlwolle zerkratzten Bialetti-Replikat – erklärte er mir händeringend, wie sehr es alle gerade anscheisse, dass beide geplanten Frauenkämpfe nicht zustande kämen, aus Gründen. Das war ein herber Dämpfer für die Gruppe, sie wollten nicht bloss Typen im Ring, möglichst alles richtig machen und trotzdem das Ding einfach auch durchziehen.

Diese Undergrund Fight League performance. Trotz Kritikkreuzfeuer aus allen möglichen Gräben – gefüttert von Neid und Moralin.
Leider auch szenenimmanent.

Mensch, man muss Dinge durchziehen, unbedingt, gerade wenn man Bock hat. Das moralische Fallbeil auch riskieren, wenn dabei die Ohren für Kritik offen bleiben und der Selbstgerechtigkeit abgeschworen wird – denn folgt ohne Lust und Risiko nicht Komfortzone und der drecks Immobilismus?
Ich bekenn mich hier übrigens schuldig, der Homosozialität – guilty – aber hey, hier schulterklopft jemand, der dabei war und hörte, wie strukturelle Problematiken bis zum einkehrenden Selbstzweifel (der Hünde!) diskutiert wurden – I can prove that right.
Ah und wenn wir schon mal dabei sind, gönnt euch zum Thema und aktuellen Anlass die Diskussion zwischen Ugi, Knackeboul, Dani Rysrer und Franziska Schutzbach aus der Sendung «LATE LIFE im Exil» bezüglich dem neuen K*##el Buch «In Badehosen nach Stalingrad», worth a klick. anyway …

Einen durchziehen wär jetzt schön, und ich rauch nicht mal Hase.
say word.

Wow wow wow wow, fuck, es geht los – Diesen Beitrag weiterlesen »

Lass uns Lieben – Puts Marie

Urs Rihs am Sonntag den 14. Oktober 2018

Der Fischer hiess uns letztens, er hiess uns zu schreiben und noch besser Liebesbriefe.
Also schreib ich, an eine Band, die Band der Stunde.

Stell dir vor: Untergehende Sonne, in der Luft schon die süsse Ahnung einer langen Nacht, der längsten. Im kaputten Rom von Übermorgen – feuchter, bohemer Traum.
Halbzerfallene Renaissancebauten und trotzdem so schön wie noch nie, eine Stadt dem Halbdunkeln und so hell wie noch nie. Puts Marie, Puts Marie –

Undurchsichtig, unnahbar, eine rauschende, flirrende Idee von wie das klingen sollte – viel Rauch, viel Krach, viel Drama,
und lassen nicht bloss die Gebrochenen das Licht durchscheinen?
Puts Marie, Puts Marie –

Lasst uns die Brunnen mit den besten Tropfen aller Zeiten füllen, lasst uns mit dem edelsten Tscharas alle Gotteshäuser beweihräuchern und in den sterilen Laboratorien der Technokraten das reinste Acid synthetisieren. Und dann lass uns riechen, lass uns schnaufen, lass uns leben.
Lass uns lieben.
Puts Marie, Puts Marie –

Auf Clubtour mit ihrem neuen und lang ersehnten Album, die Band mit dem abgründigsten und erdeschönsten Soul, der Stunde und bitter, bitter nötig – Puts Marie.

Erster Spieltag ist nächsten Freitag im Südpol, Luzern.

Dancing Ausserholligen

Mirko Schwab am Freitag den 21. September 2018

Eigentlich saudoof, so Rollschuhdisko. Eigentlich ein Fall für die Mottenkiste der Achtzigerjahre.

Aber «who gives a fuck» sagt mein Freund Y. immer dann, wenn man sich selbst oder seine Prinzipien nicht allzu ernst nehmen sollte. Er hat recht. Ich hab Prosecco. Die S-Bahn fährt am Europaplatz ein, wo Nebel aufsteigt bis hoch zum Betonbauch der Autobahnbrücke. Bunte Lichter haben sie montiert, Glitzer Glitzer allenthalben, die besten schlimmsten Lieder stehen in der Luft. Lieder einer Zeit, der wir uns nostalgisch erinnern, ohne sie erlebt zu haben. Dancing with tears in my eyes.

Es ist Rollschuhdisko. Und Rollstuhl-. Die «Heitere Fahne» ist mal wieder fremdgegangen, unverkennbar oszillierend zwischen Inklusivität und Sexyness hat sich die verrückte Idealistenschar breitgemacht am Verkehrsknoten, für einen unbeschwerten Tanz auf Rollen. Es ist schön, passiert sowas. Zumal hier, wo das amerikanisierte Bern und das eidgenössische, das Schrebergärtli-Bern und das verlotterte aufeinandertreffen wie sonst nirgendwo, wo die Zwischentöne viel Platz haben im urbanen Kessel zwischen Verkehrsarchitektur, Arbeiterhäusern und Gentrifikation.

Und es ist nicht selbstverständlich. Kollektive wie die «Heitere» prägen damit nicht nur die wichtige Debatte um Kultur in der Öffentlichkeit und überholte Bewilligungspraktiken, um Lärm, Luft und Demokratie, eine Debatte, die gerade erst richtig – voilà – ins Rollen kommt. Gerade die Idealistenkiste aus Wabern leistet mit ihrer eleganten und unprätentiösen Art der sozialen Festerei auch einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis meiner lieben Sandsteinstadt. Eine derart vielfarbige und gemeinschaftliche Atmosphäre, getragen von Leuten mit und ohne Behinderung oder Haarausfall oder wasimmer, who gives a fuck – dieser seltsame Gegenentwurf zum klassischen Szenenauflauf, zur «quiche urbaine», er wäre im sich selbst stets bis zur Verspannung bewussten Zureich etwa kaum daheim.

Nichts ist peinlich hier zwischen den Brückenpfeilern. Im Diskonebel mischt sich Freiheit unter. Immer dann, wenn man sich selbst nicht allzu ernst nimmt.

Von Studeyeah nach fern

Urs Rihs am Samstag den 1. September 2018

Ein kleiner Exkurs gewagt mit einer Band –
und vom Balkon aus,
vom Vorgarten, vom Schiff aus?
Mindestens in der Phantasie – in die weite Welt hinaus.

Abflug ist vom Lorrainepärkli oder genauer war, denn am letzten Samstagnachmittag an der Quartierchilbi passiert.
Auf der Bühne stehen vier wohlverlumpte Spitzbuben aus dem Seeland und spielen Synth-Reggae, singen Mundart, erzählen Geschichten, lachen und rauchen Hase dabei. Studeyeah,
öffnen das hermeneutische Fenster, einige Zeichen lassen sich deuten.

«Fründlechkeit kennt keni Gränze, im Migros Restaurant ds Gränche

Schertenlaib & Jegerlehner als Vorboten – Reggae aus dem Emmental – haben’s mit dem «Sämi» vorgemacht. Das Heimatliche lässt sich bestens löchern. Dazu genügt tatsächlich auch schon etwas Off-Beat, dabei das lokale Idiom beibehalten, und schon reicht der Horizont von der Stammbeiz bis an den Strand, vom Bären bis nach Kingston. Mundart-Exotica?

«Zum Heue het mi Vater ä Chappe a, är stosst siner Dreadlocks unger d Wulle.»

Exotica, das ist in der Musik Ausdruck einer Sehnsucht, vom kleinen «Andern», aber unter Beibehaltung eines eigen Genuinen, echt Hiesigen. Dem Dialekt beispielsweise. Triebgefedert von der Lust und Neugierde auf das Fremde.
Schliesslich schlummert in jedem und jeder – mindestens unterbewusst – die Ahnung der eigenen Unvollständigkeit.

In Garagen hängen Poster von Thailand, im Atelier ein Schwarzweissfoto von Patagonien, im Coiffeur Salon die Postkarte aus Ascona.

Alle wir brauchen das Fremde, um nicht gottjämmerlich vor die Hunde zu gehen.
Wer das verneint, verdrängt, vergisst, vergiftet sich nach und nach mit dem schlimmsten Sozial-Toxin: Der Ignoranz.
Das Antidot das Phantasma, das Spiel, der Nonsens – die Kunst.

«No man, I want no island man, i wott uf ds Feschtland, do you understand?
If you like the alps, go there for your holidays, dunge am Louenesee.»

Studeyeah, die Anti-Boygroup aus der rausten Hippiesiedlung der Schweiz, aus Biel aka BNC, betoniert mit ihrem Sound eine Startbahn, um Ideen fliegen zu lassen. Und weil das nicht an der Hochschule für irgendwelche Künste seinen Anfang nahm, sondern auf dem Basketballplatz, dem Migros Restaurant und zwischendurch auch vor dem Altersheim zum Stehen kommt, hat es das Potential alle zu erreichen.

«Chunsch ines Heim s geit nümm Daheim was isch das für nes truurigs Game?»

Quer durchs gesellschaftliche Spektrum. Studeyeah reicht sanfte Hände, über perfekt gestutzte Gartenhecken, über Wagenburgen, über Stammtische und überhaupt. Alle schmunzeln zusammen – von Stdeyeah nach fern – aber ironisch ist das nicht, sondern immer auch scharf, mitunter kritisch und vor allem,
vor allem versöhnlich.


Die rauchende Schildkröte, Insigne der Verweigerung, gibt’s von Studeyeah auch auf T-shirt …

Corpus Delicti Cis-Thorax

Mirko Schwab am Mittwoch den 13. Juni 2018

Oder wie eine nackte Hetenbrust die Gemüter erhitzte.
Fragen an den Frauenraum.

Sonntagmorgen früh in der Sandsteinstadt, die Sonne wird bald aufgehen und zwei Tage aufs Unheiligste miteinander verknüpfen. Eine Festgemeinschaft steht auf der Gitterstiege beim Frauenraum und raucht sich wiederholende letzte Zigaretten, hat Glitzer im Gesicht und macht grosse Augen oder kratzt sich schnell am Nasenloch. Das Kugelfest hat zum Solidaritätstanz geladen. Und so tanzt man drinnen selbstvergessen, zwanglos, wild und solidarisch zu den monochromen Klängen einer stereotypen Tanzmusik. Mein kleiner Freund, dessen Namen in dieser Geschichte keine Rolle spielt, schwitzt sich an der Bühnenkante aus, selbstvergessen und zwanglos schiebt er Luft herum, dicke Luft im tropischen Klima dieses schlechtbelüfteten anderen Dachstocks der Reitschule.

Jemand aus dem Frauenraum-Kollektiv hat sich über deinen nackten Oberkörper beschwert!

Dicke Luft. Mein Freund hat in der Zwischenzeit sein nasses Leibchen ausgezogen und sich dabei mit den Awarenesstruppe angelegt. Jemand habe sich beschwert. Verdutzt fragt er nach und die dann folgende Erklärung wirft Fragen auf: Er sei doch offensichtlich ein «Cis-Mann» und da sei es verständlich, wenn das Hemdabstreifen hier ein Problem sei. Vielleicht würde dieser «Jemand aus dem Frauenraum-Kollektiv» schlechte Erfahrungen mit dem Anblick einer blutten Männer-Brust verbinden. Man müsse halt Rücksicht nehmen. (Einen Kreislaufkollaps in Kauf?)

Nippelgate im Bassgewummer. Und also Fragen. Angefangen bei der Kommunikation: Das zu Beginn des Abends verteilte «Awareness-Konzept» sieht vor, dass sich jede als solche empfundene Belästigung anonym melden lassen kann. Ein um die allgemeine Awareness besorgte Team kümmert sich dann um die Konsequenzen – was flauschig klingt, hat in diesem konkreten Fall aber zur Folge, dass über einen konkreten Grund nur gemutmasst werden kann. «Vielleicht» gäbe es ja schlechte Erfahrungen mit entblössten Heten-Brustwarzen. Who knows gäu. Spielt das überhaupt eine Rolle?

Ich finde schon. Das langweilige Wort dazu heisst «Verhältnismässigkeit». Wer oder was (ein Mensch oder eine Theorie?) kann einen solchen Anblick wirklich nicht ertragen? Und: Wäre irgendwer angerannt gekommen, hätte sich ein «offensichtlich» homosexueller Mann daran gemacht, sein Shirt auszuziehen? Wie steht es dann noch um die angestrebte Freiheit? Um das Klima des gegenseitigen Respekts, der gegenseitigen Toleranz und empathischen Freude, denen ein solches Fest doch gestiftet sein will? Wie steht es um die Freude auch an einer mann- und frauigfaltig gearteten Körperlichkeit – unabhängig irgendeiner sexuellen Identität? Sollte diese Identität denn an der schieren fleischlichen Oberfläche überhaupt bestimmbar sein? Werden Machtstrukturen aufgelöst oder lediglich verschoben, wenn sich aus einer sehr offensichtlich kleingeistigen bis easy weltfremden Befindlichkeit gleich eine solche Intervention ergeben muss?

Liebe Awareness,
Die Musik ist zu laut. Also, auch nicht mein Geschmack. Und vielleicht verbinde ich halt schlechte Erfahrungen damit. Könnt ihr das bitte wegmachen?

Aber lassen wir die Polemik. Der Frauenraum ist mir ein lieber Ort, das Kugelfest ist mir ein schönes. Die Fragen, die sie aufwerfen, sind wichtige und delikate. Umso trauriger macht es mich dann, wenn die hehren Bemühungen zur Freiheitserhaltung aller in einer sehr ideellen Entkörperung und Entindividualisierung münden. In einer Verkopfung, Versteifung und Verklemmung, die dem Mensch und seiner Vielseitigkeit, die dem Fest und seiner Ausgelassenheit, die dem Tanz und seiner Körperlichkeit nie gerecht werden können. Und in einem seltsamen Opfer-Täter-Diskurs sich auch verfangen, wo doch eigentlich ein bisschen gesunder Menschenverstand the good old und ein bisschen Face-To-Face-Gesprächskultur es auch getan hätten.

Stattdessen wird mein Freund in seiner empathischen Begabung dergestalt untergraben, dass er als Symbol herhalten muss für eine sehr verallgemeinernd formulierte toxische Cis-Männlichkeit. Dazu taugt er kaum. Jedes auf gesunder Kommunikation und Menschenliebe begründete Gespräch hätte es rasch offenbart. Stattdessen werden Theorien gewälzt und Feindbilder projiziert, werden die wirklich problematischen Machtverhältnisse der Welt da draussen im Innersten der Reitschule in ein nicht weniger fragwürdiges Gegenteil verkehrt.

Wäre der Frauenraum wirklich die gelebte Utopie, die er für sich beansprucht und die ich mir für ihn wünschte – es könnte sich auch der Cis-Mann, die alte Hete, darin aufs Genüsslichste entfalten, könnte wild tanzen und von mir aus halbnackt. Auch er ist Teil des Spektrums aller sexuellen Identitäten – soll er nicht mit seiner ganzen Körperlichkeit auch stattfinden in den Diskursen und den Diskotheken?

Aber ich möchte hier nicht für andere sprechen. Listen up, die ihr aware seid und woke: Ich bin eure hetero-normative C(is)-Dur-Harmonie mit der weissen Hühnerbrust. Ich befürworte die Gleichberechtigung aller sexuellen Identitäten. Ich lutsche manchmal Schwänze. Ich bin ein sehr kleiner, euch sehr naher Teil einer homophoben, frauenfeindlichen, von wüsten Machtstrukturen gefurchten Welt.

Macht es euch nicht zu leicht mit mir.

Where the hell ….

Urs Rihs am Sonntag den 3. Juni 2018

Is BAD BONN – die Kilbi 2018 ist durch und der KSB zurück in bella Berna.
Noch ein zwei Gedanken zum gestrig letzten Weihnachtstag 2018 in Düdingen.

Es bewegten vor allem zarte Momentchen und Dinge –

Der Soundcheck zu AHMED NEW JAZZ IMAGINATION, noch quasi niemand auf Platz, dafür ein Flügel auf der Bühne.
Dieser wird mitunter wie ein Bongo traktiert, mit ganzen Handflächen drischt Pianist Pat Thomas auf die Klaviatur und meint dazu schmunzelnd zum Tontechniker: «Is the tune right?» [sic]

Die Stimme von NADAH EL SHAHZLY und als während ihrem Konzert der Hausmeister Deux höchstpersönlich zweien dionysierten Labertaschen per Jedi-Handbewegung das Gschnorr abstellte.
Das Wichtigste an der Kilbi: zuhören.

Die Stimmung am See bei MELISSA KASSAB – Wes Anderson hätte seine Freude gehabt, das Licht so warm, der Wasserspiegel so glitzrig, dass einem die Kitschtränen kamen.

Das Ad hoc Interview mit den HORSE LORDS aus Baltimore, weil der vorgesehene Interviewer wohl lieber eine Bildstrecke für nau knipste (?)
Angesprochen auf den Country-Twang ihres Gitarrenspiels – selten bei avant-garde Rockbands, die sonst soundästhetisch meist den Grunge Spazierenführen, so gehört – verweist Saitenmann Owen Gardner auf die oftmals ignorierten afroamerikanischen Wurzeln des Genres.
Country sei nicht so weiss wie der Hauptstrom meine. Man denke an DeFord Bailey beispielsweise, einem Begründer der Sparte und einer seiner Lieblingsmusiker.
Dieses Bewusstsein und die Zärtlichkeit mit welcher die Buben über ihre Musik reden, konterkariert ihre Ratlosigkeit, sprechen sie auch über die sozialen Verhältnisse ihrer Heimatstadt.

Baltimore hat so viel Morde wie das Jahr Tage und ist noch immer hochgradig segregiert – 2018 …
HORSE LORDS, die Band welche vor ihrem Konzert nichts vom Bonn und der Kilbi wusste und sich dafür auf den ersten Blick verliebte, hat mir versprochen, etwas von diesem Gefühl über den grossen Teich zu retten, nach Hause.

Und dann noch das Gewitter der beiden Bristol-Tech-Punk-Frickler GIANT SWAN. War zwar alles andere als zart, aber was rundete eine Kilbi versöhnlicher ab, als sich von einstürzenden Soundwänden und brechenden Synthzunamis eindecken zu lassen? Hart am Leben!

GIANT SWAN – B wie: brachial, Bristol & BOOM!