Der Schweizer Musikpreis wird heute verliehen. Und natürlich darf geschossen werden. Trotzdem ist geboten, die Kirche im Dorf zu lassen. Leise Replik auf einen lärmigen Noisey-Text.

Eine der fünfzehn Nominierten für den Hauptpreis: Elina Duni, Sängerin zwischen Tradition und Avantgarde.
Wenn heute Abend in Basel die Hauptgewinnerin oder der Hauptgewinner des vierten Schweizer Musikpreises verkündet wird, sind die bitteren Zeilen längst verfasst. Kollege Riegel etwa bemängelt bei Noisey, dass nur Alte auf der Shortlist stünden, darüberhinaus noch solche aus unpopulären stilistischen Fächern. «Wieso gewinnen nur alte Menschen den Schweizer Musikpreis?» fragt sich entsprechend die gewohnt poetische Überschrift über dem Text des Musikmagazins von Vice. Blick zurück: Vor einem Jahr wurde Sophie Hunger mit demselben Preis geehrt. Alter: dreiundreissig. Handwerk: Pop. Ergebnis: Scheisssturm.
Im genannten Artikel selbst wird das nicht unterschlagen. Trotzdem verschenkt sich der Text der These, wonach der Musikpreis zunehmend zur Würdigung «hochstehende(r) Musik für alte Menschen» würde. Eines stimmt: Im Vergleich zu den Vorjahren (der Preis besteht seit 2014) ist etwas weniger Pop auszumachen im Spektrum der Nominierten. So what? Nächstes Jahr schon könnte es wieder anders sein.
Die vage Formulierung des Anspruchs, der an die Preisträger*innen gestellt wird, das Fehlen von Kategorien – sie sind gleichzeitig Fluch und Segen dieses Preises. Fluch deshalb, weil sie den Lautsprechern das beste Angebot sind, draufloszustänkern – immer verbunden mit der Anmassung, die musikalische Landschaft eines Landes in ihrer Gänze besser erfassen zu können, als es eine siebenköpfige (swiss so sweet, isn’t it?) Jury von Expertise zu leisten im Stand ist. Für eine gehaltvolle Auswahl, gerne auch mit Akzenten und Überraschungen hie und da, ist die grosszügige Auslegung freilich ein Segen.
Natürlich darf geschossen werden. Ein Preis von hundert Kisten bedarf einer feinen Begründung und ist der Öffentlichkeit ausgesetzt, Denkanstösse und Diskussion sind wichtige Korrektive. Ab er es stellt sich immer auch die Frage der Qualität solcher Wortmeldungen, wenn Kritik offenkundig verkürzt daherkommt. So gibt sich Riegel als Fürsprecher einer Generation «unter 51», Advokat eines koketten «Pöbel(s) von Noisey», der sich ums Musikschaffen in der Vielfalt nicht schert. Das ist erstens eine brüchige Position für einen Musikredaktor, selbst bei Spartenheftern wie Noisey. Zweitens falsch, weil gerade Exponentinnen wie Elina Duni oder Jojo Mayer durchaus viele Bewunderer haben in unserer Generation und als Vorbilder dienen. Und drittens und vor allem ist es: irrelevant.
Ginge es nämlich beim Schweizer Musikpreis um einen Popularitätswettbewerb, hätten auch die von Riegel als spontane Gegenvorschläge angeführten Künstler nicht die geringste Chance. Das ist die musikalische Marktlogik unseres kleinen Lands. Der echte, vielleicht Vice scrollende, kaum je Noisey lesende Pöbel nämlich zuckte mit den Schultern vor Namen wie Fai Baba, One Sentence. Supervisor oder JPTR. Allesamt verdammt gute Projekte, die den Sprung ins Ausland schafften oder schaffen werden, die also vorerst auf die Reperbahn gehören, bitte von Pro Helvetia und Swiss Music Export und den inländischen Förderinstrumenten vergoldet werden sollen. Die aber, schlicht schon aufgrund ihrer relativ kurzen bisherigen Schaffenszeit, kein Thema sein können für einen solchen Schweizer Musikpreis, der auch spezialisierten Lebenswerken von Gewicht und Länge Tribut zu zollen hat, Jürg Wyttenbach als Beispiel.
Überhaupt wird in solcher Kritik ein seltsam schwarzweisses Bild gemalt. «Wir» gegen die andern. Pop gegen die «Elite». Grosszügig übergangen wird hier aber das Selbstverständnis vieler Popmusiker*innen, Teil eines interagierenden, universalmusikalischen Ganzen zu sein. Viele der Biographien dies- und jenseits dieser fragwürdigen Grenzziehung streifen einander oder werden es noch tun. One Sentence. Supervisor taten sich jüngst für einige Konzerte mit dem Oud-Virtuosen Bahur Ghazi zusammen, beinahe die gesamte Band Fai Baba hat an einer Jazzhochschule ihr Handwerk gelernt und man wünschte sich JPTR als treffliche musikalische Zutat einer zeitgenössischen Theaterproduktion. Was der «Pöbel» dazu fände? Ist eben scheissegal.
Gegen eine laute, zickige These, die Platz findet in einer Überschrift, hat dieser Kommentar mit Sicherheit einen schweren Stand. Aber ich plädiere für eine leise und umsichtige Beobachtung dieses für die Schweizer Musiklandschaft in ihrer Ganzheit wertvollen Formats. Gerade weil es sich nicht numerisch, kategorisch oder direktdemokratisch festlegen lassen muss. Der Schweizer Musikpreis verdient es als überblickender, nicht an der aufs Jahr abgerechneten, numerischen Ausbalanciertheit aller erdenklichen Stilrichtungen interessierter Preis, dass Kritik an seiner Praxis ebenso mit ganzheitlichem Blick formuliert wird.
Also abwarten, erstmal easy bleiben und ein bisschen Demut gegenüber den Expert*innen, zwei bisschen Gönnerschaft gegenüber den Prämierten aufbringen – und die Kirche im Dorf lassen. Dorfgeschwätz wirds auch nächstes Jahr wieder zur Genüge geben.
Der Preisverleihung kann ab 19 Uhr via Livestream beigewohnt werden.