Wie gehen sie um mit Todesmeldungen, werte KSB-Leserschaft? Ich bin ehrlich: Ich tu mich saumässig schwer mit dem ollen Sensemann. Vielleicht hat es damit zu tun, dass der Tod in unserem Alltag nicht mehr existiert. Klar doch, im Tatort sieht man ab und an eine Leiche auf dem Seziertisch, aber wann haben Sie zuletzt in Realität sterbliche Reste gesehen? Wir versuchen so gut als möglich den Tod zu verdrängen, Leichenwagen kommen nur noch nachts, Verblichene werden auf dem Totenbett drapiert und zurechtgepimpt, damit alle Anzeichen von Zerfall nicht mehr sichtbar sind. Genau da liegt doch aber die Krux, nicht? Den Schrecken werden wir dem Senseman nicht nehmen können. Nie. Aber zumindest kann man den grimmen Genossen ins gleissende Tageslicht bzw. aufs Tanzparkett zerren und ihn so zu einem Teil des Lebens machen. Damit würde er vielleicht auch ein ganz klein wenig weniger unsäglich, denn schliesslich ist der Tod ja auch nur allzu menschlich. Keiner beschreibt dies treffender als Balts Nill:
Die Tode
«Es gibt so viele Tode wie Lebende. Deiner geht neben dir her, er zählt jeden deiner Schritte und liest deine Gedanken, nachts wacht er neben dir und merkt sich deine Träume. Er hat ein Riesengedächtnis, und in deiner letzen Sekunde spielt er dir dein Leben als Film ab. Aber vielleicht hast du auch einen ganz anderen Tod neben dir, einen vergesslichen Tod, der verliert dich eines Tages aus den Augen, und wenn du alt bist und gehen möchtest, lässt er dich warten, und du rufst nach ihm, aber er hat dich schlicht vergessen. Vielleicht hat er einen anderen getroffen, eine Verwechslung. Oder du hast Glück, und ein musikalischer Tod begleitet dich, wenn du auf dem letzten Loch pfeifst, ein zweistimmiges Requiem, für dich allein, aber vielleicht hast du einen dummen Tod neben dir, der dich vor ein Auto laufen lässt, während dir in den Sinn kommt, dass du vorhin deine Cumulus-Karte hast liegenlassen, oder ein leichtsinniger Tod ist mit dir, der lässt dich auf eine Klippe steigen und ruft «Spring, ich fang dich auf!» Vielleicht hast du ja einen witzigen Tod, der sticht dir die Pointe mitten ins Herz, oder du hast einen höflichen Tod, der klopft leise an die Tür und lässt dir Zeit, dich umzuziehen, oder du hast einen eifrigen Tod, der nimmt auch noch deine Frau und deine Kinder mit, oder einen schludrigen Tod, der macht dasselbe und murmelt sorry. Und vielleicht hast du ja einen sanften Tod, aber der ist scheu und kommt nur, wenn du schläfst, nicht zu verwechseln mit dem faulen Tod, der dich einfach liegen und verrotten lässt. Es gibt viele Tode, grosse, kleine, erfahrene, unerfahrene, sympathischere und weniger sympathische, einige sind ziemlich schön, viele aber sind hässlich, und sie alle halten um deine Hand an & wollen tanzen.»
Der obige Text «Die Tode» stammt aus der Begleitbroschüre zum «Totentanz?», einem sechs Meter langen Leporello, welches der Berner Grafiker und Illustrator Jared Muralt gezeichnet hat und zu welchem Multiinstrumentalist und Journalist Balts Nill die Texte beigesteuert hat. Der «originale» Berner Totentanz von Niklaus Manuel feiert dieses Jahr seinen 500. Geburtstag, dies der Anlass für Muralt und Nill in Zusammenarbiet mit Vatter & Vatter einen zeitgenössischen Totentanz zu schaffen.
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“[…] wann haben Sie zuletzt in Realität sterbliche Reste gesehen?”
Gerade vorhin im Migros-Kühlregal. Nicht von Menschen, aber von anderen Tieren. Schauerlich.
Leider ist das im modernen Totentanz angesprochene DU nicht neutral, sondern ganz offensichtlich ein Mann. Sonst würde der Tod nicht “Frau und Kinder” sondern “Frau bzw. Mann und Kinder” mitnehmen. Schade. Abgesehen davon ist es ein gelungener Text, der unter die Haut geht.