Irgendwann kommt bei leidenschaftlichen Lesern der Moment, der Ähnlichkeit mit einer Atombombenexplosion hat – glücklicherweise aber meist ohne böse Folgen bleibt. Wenn eine kritische Masse an Lektüre erreicht ist, dann geht eine «lebenslange Kettenreaktion» los, wie es der SZ-Chefredaktor Kurt Kister unlängst in der Wochenendbeilage schön beschrieben hat. Bücher bringen einen wieder auf neue Bücher, und diese wieder auf weitere. Und weil sich die Inspiration dabei vervielfacht, muss man bald die innere Kernschmelze fürchten, weil man nicht mehr nachkommt.
Mir ist das unlängst beim Lesen von Joyce’ «Jugendbildnis des Dichters» wieder mal passiert. Vor fast hundert Jahren erschienen, aber was für ein zeitgemässes Buch, in mancher Hinsicht! Wie alt das Buch ist, merkt man eigentlich vor allem an den Reaktionen, die es ausgelöst hat damals, an Zensur und Skandal, und an den feigen Verlegern, die es lieber nicht drucken mochten. Dabei ist diese Schilderung des Erwachsenwerdens eines Künstlers (der erst noch merken muss, dass er Künstler sein soll – da hätten wir dann auch noch einen Kontrast zu heute, wo das Künstlersein zum festen Repertoire jedes Teenagetheaters gehört) so fein und zärtlich gezeichnet und dabei von einer solchen Sprachmacht, dass man sich immer wieder neu bezaubern lässt – obwohl vordergründig ja gar nicht besonders viel passiert.
Aber diese Vordergründigkeit täuscht natürlich, wie gewöhnlich bei grossen Autoren. Joyce mochte ein Revolutionär sein, was Themen und Stilmittel anging, aber er war eben auch ein grosser Erzähler, der die Wendungen des Plots mit stiller Raffinesse arrangiert. Was Wunder, er war nun einmal ein Kind des mächtigen 19. Jahrhunderts, was die Literatur anbelangt. Und so mochte er zum grossen Erneuerer werden – schämte sich aber nicht, seinen Helden Referenz zu erweisen. Noch bevor der Protagonist im «Jugendbildnis» von echten Frauen schwärmt (es bleibt nicht lang beim Schwärmen, soviel zum Skandal), schwärmt und träumt er von Mercedes, der schönen von Dumas erdachten Katalonin, und damit auch vom dessen Meisterstück, dem «Grafen von Monte Christo».
Und so kam es, dass ich ein paar Tage später mit dieser Referenz aus dem Brockenhaus nach hause kam, und ich nun auch allmählich eintauche in den Zauber, der von Mercedes ausgeht. Und so kommt es wiederum, dass ich eigentlich nie mit leeren Händen aus einem Antiquariat komme, auch wenn ich gar nichts besonderes gesucht habe, weil ich beim Schmökern fast immer auf alte Bekannte stosse – und es werden ihrer immer mehr. Man kann da also den referenziellen Supergau befürchten – oder aber man übt sich in Gelassenheit, weil das Leben nun einmal nicht reicht für alle Bücher, die man lesen sollte. Und kommt glücklich mit immer neuen Bücherstapeln nach hause. Oder wie es Kister in der SZ sehr richtig gesagt hat:
« Zur ÜbersichtWer Bücher liebt, kauft sie nicht unbedingt, um sie zu lesen. Das ist einer der grossen Unterschiede zwischen Büchermenschen und, kaum despektierlich gemeint, Textherunterladern. Bücher hat man, um sie zu haben, um sie in die Hand zu nehmen […].
naja, das letzte Zitat stimmt jedenfalls bei mir nicht: ich beobachte das genau gleiche Verhalten in iBooks wie mit den Papierbüchern, etwa 10% bis 20% wird gelesen, daneben wird angehäuft und angestarrt.
und wie steht es denn da mit dem renommeegewinn? scrollen bekannte ehrfürchtig durch das volle digitale büchergestell und fragen leise: ‘das hast du alles gelesen’?
rein theoretisch wäre fürs bragging digital doch sogar besser mit all den Datenerhebungsmöglichkeiten, gibt’s noch kein LiteraFitBit?
@michael: fitbit für bücher inkl. Challenge: ;) gefährlich ist es im bücherbergwerk – monbijoustr. 16 – da kommt man garantiert mit mehr büchern raus als man eugentlich wollte :)
Danke Herr Fischer, mit diesem Griff in die Bücherkiste haben Sie mein Kettenreaktions-Potential auf allle Fälle erhöht!
auch nett: