Churchill? Welcher Churchill?

Er kam mangels Alternative an die Spitze: Der britische Staatsmann Winston Churchill 1948 in Croydon. Foto: Central Press, Hulton Archive, Getty Images

Winston Churchill kniet in seinem Schlafgemach, mit einem halb vollen Whiskyglas in der Hand betet er zum Herrgott. Grossbritanniens Premierminister fleht darum, dass schlechtes Wetter über dem Ärmelkanal aufzieht, damit die Alliierten am nächsten Tag die Invasion in der Normandie abblasen müssen. Denn der alternde Politiker fürchtet die Verantwortung für die Tausenden von toten Soldaten, die in dieser Operation fallen werden.

Mit solchen Bildern demontiert der australische Regisseur Jonathan Teplitzky den britischen Nationalretter. Sein Spielfilm «Churchill»ab dieser Woche in den Kinos, führt den Kriegspremier als versoffenen Feigling vor, der in der Stunde der Entscheidung versagt.

Nichts da von «Blood, Sweat and Tears»

Es ist ein Sakrileg für den älteren Teil des Publikums. Denn Winston Churchill gilt für die heutige Grossvatergeneration immerhin als Retter vor dem Nationalsozialismus und als einziger Europäer, der Adolf Hitler wirklich Paroli bot. Jetzt also steht der Held Churchill als Hasenfuss da – nichts da von «Blood, Sweat and Tears».

Aber die Filmindustrie kann darauf setzen, dass diese Kurve in der Darstellung einem jüngeren Publikum egal ist. Für heutige Generationen liegt der Zweite Weltkrieg so fern wie Napoleons Russland-Feldzug zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die Älteren. Und damit erfasst eine alte Regel auch Figuren, die unlängst noch sehr nah erschienen: Je weiter zurück eine historische Person, desto beliebiger die personengeschichtliche Interpretation. Über den Feldherrn Hannibal kann jeder ohne Beleg sagen, was er will – und das Interessante ist nun, dass das für Churchill offenbar auch schon gilt.

Er wollte auch in die Normandie

Oder doch nicht? Entlarvt Regisseur Teplitzky in seinem Film vielleicht wirklich einen falschen Helden? Unbestritten greift die Produktion historisch belegte Episoden auf. So war Winston Churchill beispielsweise von der Idee besessen, zusammen mit den alliierten Soldaten höchstpersönlich an der französischen Küste zu landen; dies hat unter anderem der heutige britische Aussenminister Boris Johnson in seiner Zusammenfassung der Churchill-Forschung («The Churchill Factor») aufbereitet. Erst eine Intervention von König Georg VI. konnte ihn davon abhalten.

Allerdings spricht Churchills Sehnsucht nach der Front nicht für Feigheit, wie der Film suggeriert, eher für «Mediengeilheit», wie Boris Johnson schreibt. Auch war Winston Churchill nach dem Scheitern seines Vorgängers Neville Chamberlain keinesfalls der Wunschkandidat der Konservativen. Er kam vielmehr mangels Alternative an die Spitze – denn der geeignetere Mann, der damalige Aussenminister Lord Halifax, traute sich das Amt nicht zu. Also noch ein Zauderer.

Ein Genie – bis man Fragen stellt

So oder so: Winston Churchill ist nicht der einzige grosse Mann aus dem 20. Jahrhundert, dessen Glanz mit fast schon sichtbarem Tempo verblasst. In der Schweiz erinnern sich Junge heute kaum an den Westschweizer General Henri Guisan, den von der Aktivdienstgeneration bewunderten Helden. Seine Schwarzweissfotografie hing einst in den guten Schweizer Stuben, Küchen oder Beizen. Und neben dem Vergessen bringt es die Zeit mit sich, dass auch hier Retuschen am Glorienschein angebracht werden. Die neuere Forschung hält Henri Guisan nicht mehr für das unumschränkte Strategiegenie, als das er galt, bevor man kritische Fragen zu stellen wagte.

Und so erleben selbst unbestreitbare Unmenschen wie die Nationalsozialisten in einer nachwachsenden Generation eine gewisse Abschleifung; anders ist der anscheinend sorglose Umgang einschlägiger Rockbands mit düsteren Symbolen aus dieser Zeit nicht zu erklären. Und in Russland ist das Vergessen noch deutlicher: Dort ist das Stalin-Bild vieler Junger und Älterer wieder positiv besetzt – Massenmorde hin oder her. Der Mann ist ja längst tot und kann keinen Schaden mehr anrichten. Zudem war Stalin als Alliierter im Krieg gegen die Nationalsozialisten international respektiert. Selbst der konservative Churchill, der mit autoritären Kommunisten gar nichts gemein haben wollte, hatte sich mit ihm arrangiert.

Der Allmächtige erhörte übrigens den mutlosen Film-Churchill nicht; die Invasion vom 6. Juni 1944 nahm unter dem Codenamen «Overlord» ihren Lauf. Etwa 1,5 Millionen alliierte Armeeangehörige erreichten innerhalb einer Woche Frankreich, 90’000 Truppenangehörige verloren auf ihrer Seite das Leben.

14 Kommentare zu «Churchill? Welcher Churchill?»

  • Hans Iseli sagt:

    Es ist schon erstaunlich, wie viele durchgeknallte Stories und Theorien ihre Anhänger finden, ungeachtet jeder geschichtlichen Tatsachen. Ist wohl eine typisch allemanische Eigenschaft: Besserwisserei der Oberlehrer.

  • Lionel Scheffer sagt:

    Nicht zu vergessen: der Churchill, der den Iren die Black and Tans geschickt hat, die freie Hand hatten, zu rauben und morden. Aber vielleicht mochte Churchill Katholiken nicht.

  • Peter Hartmann sagt:

    Filmische Dramaturgie in Ehren – aber eine solche Szene halte ich für vollkommen unglaubwürdig denn die Zurückeroberung, der Sieg über die Deutschen, war ja, was man jahrelang angestrebt hatte und endlich in Griffweite lag. Für solche nicht zielführenden defätistischen Anwandlungen war der Mann ganz bestimmt nicht anfällig, immerhin hatte er bereits ca 40 Jahre politische Erfahrung, sogar selbst in Kriegen gekämpft und, in der damaligen Zeit selbstverständlich für UK, weltweite strategische Interessen und Ziele. Dass Deutschland zerschlagen werden sollte ist im Licht des erst 20 Jahre zuvor beendeten 1. Weltkriegs mehr als verständlich, sowieso weinmann die flächendeckenden Bombardements engl. Städte anfangs des Kriegs bedenkt.

  • Meinrad Johann Stöckli sagt:

    Meiner Meinung nach hätte Churchill ebenfalls vor die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gehört zusammen mit Stalin und Roosevelt. Der Spiegel schrieb allerdings in Nr. 3/1957, dass einige der Nürnberger Prozesse auch Schauprozesse gewesen seien (im Gegensatz zu heute, bemühte man sich damals noch um die Wahrheiten).

    • Daniel Meier sagt:

      Herr Stöckli, warum sollte dies geschehen, zumindest bei Churchill? Roosevelt war ja damals schon tot, abgesehen davon. Churchill war bei Kriegsausbruch lediglich Marineminister. Viel ärger finde ich, dass niemand die Landung bei Gallipoli im WWI 1915/16 erwähnt. Diese hat Churchills Karriere damals ruiniert, er ging dann als Oberstleutnant an die Westfront, bevor er als Munitionsminister wieder ins Kabinett geholt wurde. Sein Zaudern im Lichte dieser Erfahrung kann ich durchaus verstehen. Dass er aber mit den ersten Truppen an Land wollte in der Normandie, wird wohl im Angesicht seiner Frontbesuche durchaus zutreffen. Stalin hätte, um auf Ihren Post zurückzukommen, wegen den Angriffen auf Polen und Finnland und der Besetzung der baltischen Staaten durchaus vor Gericht und gehängt gehört.

      • Daniel Meier sagt:

        In Nürnberg wurden tatsächlich Urteile gefällt, die im Lichte der heutigen Wissensstandarts nicht mehr richtig wären. ZB Jodl und so unsympathisch er auch war, Streicher, hätten wohl nicht mit der Höchststrafe abgeurteilt werden dürfen, wohingegen Speer ganz eindeutig zu gut weg kam. Er hätte durchaus zurecht ein Rendezvous mit Seiler’s Tochter zu Gute gehabt wegen seiner Rolle bei den Zwangsarbeitern, welche er von Sauckel gefordert und auch erhalten hat. Sauckel musste ja dann auch daran glauben. Wirklich fehl am Platz war nur Fritzsche als Quasiersatz von Goebbels. Der hatte bei den Angeklagten dieses Kalibers nun wirklich nichts zu suchen. Über die Freisprüche von Papen und Schacht kann man auch geteilter Meinung sein, auch wenn sie zugegebenermassen nicht zur Spitzenriege gehörten.

  • Rolf Zach sagt:

    Churchill war erfreut, dass der Putsch vom 20. Juli 1944 von Stauffenberg scheiterte. Hitler war der bessere Zerstörer von Deutschland als die konstitutionellen Monarchisten von Stauffenberg und seine Anhängern. Sie hätten voraussichtlich Roosevelt sehr schöne Augen gemacht und dies war für einen Briten in der Nachfolge von Pitt schrecklich. Gut, dass dieser Alptraum nicht wahr wurde.

    • Richard Stretto sagt:

      Stauffenberg & Co wollten nach einem erfolgreichen Attentat einen Separatfrieden mit England und den USA, um sich voll auf den Kampf gegen Russland konzentrieren zu können. Churchill war ein Kommunistenhasser und auch erbost, dass sich Roosevelt das eine oder andere Mal von Stalin über den Tisch ziehen liess (Yalta, Teheran). Aber er war auch von Roosevelts finanzieller und militärischer Unterstützung abhängig. Und: Er wollte unbedingt, dass Deutschland ein für allemal zerschlagen wird. Und da die Allierten am 20. Juli 1944 bereits erfolgreich (und zu einem für die Briten akzeptablen Blutzoll) in der Normandie gelandet waren, ist seine Zufriedenheit über die Niederschlagung des Putsches verständlich. Vor allem im Nachhinein…

  • Rolf Zach sagt:

    Im Gegensatz zu Stalin, waren Churchill und Roosevelt besorgt, dass die Verlustzahlen ihrer Soldaten sich in Grenzen hielten. Sie fürchteten die Wiederholung eines Schlachthauses wie im 1. Weltkrieg, deshalb hat Churchill mit Stalin auf dem berühmten Papier Osteuropa bis Griechenland fröhlich aufgeteilt. Kostete weniger alliierte Soldaten und verhinderte die Sowjets an den Gestaden des Mittelmeers zu tummeln. Stalin hat sich schwach daran gehalten , Chruschtschow und Gromyko gar nicht. Resultat: ein wieder- vereinigtes Deutschland.
    Der Holocaust hat Churchill sicher keine Alpträume verursacht, dagegen Gandhi schon. Churchill schätze die Buren und vor allem ihren Anführer Jan Smuts, einer seiner besten Freunde. Die Schwarzen waren einfach Kaffirs und sonst nichts.

    • Relation Churchill Co. sagt:

      Im Gegensatz zu den kämpferischen Weicheiern und wenig solidarisch agierenden Alliierten, hat Russland unter dem unvorstellbaren Blutzoll von 20’000’000 gefallenen eigenen Soldaten, durch die entscheidenden Schlachten und Einnahme von Berlin und dem unausweichlich erfolgten Suizid Hitlers, dem 2. Weltkrieg endlich das traurige Ende bereitet.

      • Rolf Zach sagt:

        Die Gretchenfrage ist ganz einfach! Hätte Hitler den 2. Weltkrieg gewagt 1939 anzufangen, wenn nicht Stalin mit ihm ein Pakt unterschrieben hätte?

      • Daniel Meier sagt:

        Also,Ihr Kommentar ist so nun wirklich nicht haltbar.Wer hat sich denn mit Dölf ins Lotterbett gelegt,Finnland angegriffen,Polen angegriffen,die baltischen Staaten besetzt? Ah ja, Onkel Jo… Natürlich hat die Sowjetunion danach einen riesigen Blutzoll geleistet, aber seien wir ehrlich: Ein Mann, welcher sagt, dass ein Toter eine Tragödie, eine Million Tote aber nur eine Statistik sind, der hat nach solchen Verlusten keine schlaflosen Nächte. Er hat ja auch nach dem Krieg wieder munter Schauprozesse durchführen lassen. Zudem hat wegen Stalins Fehlern die Rote Armee in den Anfangstagen von Barbarossa sehr kopflos agiert und sie konnte sich glücklich schätzen, dass die Deutschen ihre Kräfte verzettelten,barbarisch agierten und die Alliierten anfangs ungestört Nachschub liefern konnten.

  • Rolf Zach sagt:

    Das Ansehen von Churchill ist Spiegelung des weltweiten Abscheus, die man von Deutschen in beiden Weltkriegen hatte. Dies ist natürlich im 2. Weltkrieg mit Hitler-Deutschland um vielfaches grösser gewesen als im 1. Weltkrieg. Napoleon hat wenigstens vielfach in Europa trotz Ausplünderung die Errungenschaften der Französischen Revolution verbreitet und die waren fortschrittlich. Für Hitler gab es in Europa nur Herren und Sklaven. Die Herren waren die Deutschen, die Sklaven die anderen. Niemand in Europa wurde damit glücklich, nicht mal die Eliten, auch wenn sie von den Deutschen verwöhnt wurden.
    Churchill war seit Beginn des 2. Weltkrieges ein eifriger Befürworter der Zerschlagung Deutschlands wie Stalin auch in guter Nachfolge von Alexander III, Zar von Russland. Roosevelt war es nicht.

  • Rolf Zach sagt:

    Man muss Churchill aus seiner Zeit heraus verstehen. Für ihn zählte nur der Bestand des Britischen Weltreiches und alles andere war für ihn zweitrangig. Als Mitglied der Oberschicht war er natürlich auch ein Befürworter der konstitutionellen Monarchie mit Adel wie es in England der Brauch war. Zu den Arbeiter in England hat man eine fürsorgende Haltung und gegenüber den Farbigen im Weltreich ist man ein Rassist. Diese Völker können froh sein, so eine gerechte Herrschaft wie die englische zu erleben.
    Er war als verantwortlicher Politiker für dieses Weltreich gegen jeglichen Versuch der Bildung einer Hegemonialmacht in Kontinental-Europa, sei es wie Pitt gegen Napoleon und so war er gegen Deutschland im 1. und im 2. Weltkrieg.

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