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Schwimmwunder David Popovici im PorträtDer Wassermann

Der Rumäne ist der schnellste und anmutigste Schwimmer, den die Welt je gesehen hat. Für uns Normalsterbliche hält David Popovici eine schöne Botschaft bereit.

Wenn Popovici ins Wasser springt, legt sich ein Zauber über das Schwimmbad: Die Aufnahme stammt von einem Wettkampf in Ungarn und wurde mit einer Unterwasser­kamera gemacht.

Als David Popovici an einem Freitagmorgen im März das Gelände seines Sportvereins Dinamo Bukarest betritt, ist ihm nicht anzumerken, dass er der schnellste Schwimmer der Welt ist. Wie jeder Schwimmer, der um diese Zeit – es ist noch nicht einmal sieben Uhr – sein Training beginnt, macht er einen routinierten, beinahe gleichgültigen Eindruck. Am Beckenrand legt er sich eine Trinkflasche parat und ordnet das wenige Material, das er später benötigen wird: Flossen, Brett, solche Sachen. Er gibt seinem Trainer die Hand und kramt eine Schwimmbrille aus der Tasche. Um sich aufzuwärmen, streckt er den Rücken durch, hüpft ein paar Mal auf und ab und schwingt die Arme.

Alles ziemlich gewöhnlich.

Doch dann springt er ins Wasser, und über das Schwimmbad legt sich ein Zauber. Plötzlich sind alle Fragen geklärt, ergibt alles Sinn. Hier gehört er hin, in dieses Becken, auf diese Bahn, zwischen diese Leinen.

Menschen sind nicht geboren, um zu schwimmen. Sie sind geboren, um zu laufen. Wollen sie sich im Wasser fortbewegen, müssen sie es mühsam erlernen. Den meisten Menschen sieht man die Anstrengung an, die sie das kostet, sogar den Besten. David Popovici nicht. Er schwimmt nicht nur schnell, er schwimmt leicht. Nicht nur nach sportlichen Kriterien ist er der Beste, auch aus ästhetischer Sicht. Er ist gerade einmal neunzehn Jahre alt, ein Gymnasiast aus Bukarest, der in seiner knapp bemessenen Freizeit gern Filme schaut, die alten Philosophen liest und mit seiner Freundin Musik hört.

Es ist die höchste Kunst: etwas Schwieriges leicht aussehen lassen. David Popovici beherrscht sie im Wasser wie niemand sonst. Er könnte irgendwo auf der Welt in irgendein Gewässer springen, in den Atlantik vor Rio de Janeiro, in die Tessiner Maggia oder in den Lake Michigan bei Chicago, und alle, die zugegen wären, würden sofort das Besondere erkennen. Wenn man ihn einmal schwimmen gesehen hat, sagt man nicht mehr, man wolle schwimmen wie ein Fisch. Man sagt, man wolle schwimmen wie David Popovici.

«An Land hat er zwei linke Füsse»: David Popovici (19), Schwimmwunder.

«Er ist ein Wassermensch», sagt sein Vater Mihai Popovici.

Sein Trainer Adrian Rădulescu sagt: «An Land hat er zwei linke Füsse. Glauben Sie mir, beim Joggen wollen Sie ihm nicht zusehen.»

Seit David Popovici letzten Sommer als noch nicht einmal Volljähriger den Weltrekord in der Königsdisziplin 100 Meter Freistil unterbot, habe ich mir das Video davon bestimmt hundert Mal angeschaut. Das lag zum einen an der Sache selbst: Weltrekord. Wenn man sich ein bisschen für Sport interessiert – ich war selbst mal Leistungsschwimmer –, hat man das Wort schon so häufig gehört, dass es einem beinahe normal vorkommt.

Doch das ist es nicht. Niemals sollte man sich an dieses Wort gewöhnen. Denn was bedeutet Weltrekord eigentlich? Es bedeutet, dass ein Mensch besser ist, als man es bisher kannte. Einem Weltrekord wohnt eine unvergleichliche Magie inne, besonders in einer Sportart mit einer derart langen Geschichte – als eine von nur neun Sportarten gehört Schwimmen seit den ersten Olympischen Spielen im Jahr 1896 zum olympischen Programm.

Sprenzel unter Muskelmännern

Der andere Grund für mein exzessives Videostudium war David Popovici selbst. Wie war es möglich, dass ausgerechnet er in ausgerechnet diesem Rennen Weltrekord erzielte? Popovici ist nicht nur ein sehr junger Weltrekordhalter, er ist vor allem anders gebaut als seine Vorgänger. Vor ihm dominierten 90 bis 100 Kilo schwere Muskelpakete das 100-Meter-Freistil-Rennen. Je kräftiger, desto besser – das war die Regel. Es herrschte nur ein Gesetz: das des Stärkeren. Wer im Wettkampf bestehen wollte, verbrachte im Kraftraum fast so viel Zeit wie im Schwimmbecken.

Popovici aber wiegt nur gerade 80 Kilo, bei 1,91 Meter Körpergrösse. Sein Training ist nicht darauf ausgelegt, möglichst viele Muskeln zuzulegen, er darf – im Gegenteil – nur gerade so viele Muskeln zulegen, dass sie nicht seinen Schwimmstil zerstören.

An den Europameisterschaften letzten Sommer in Rom sah man es am besten kurz vor Rennbeginn, als die acht Finalteilnehmer ihre T-Shirts auszogen und sich mit nacktem Oberkörper hinter den Startblocks aufstellten. Alle spielten mit den Muskeln wie Leichtathletiksprinter. Alle bis auf David Popovici. Mit welchen Muskeln hätte er spielen sollen? Er stand einfach da, überblickte das Becken, schaute auf seine Gegner links und rechts.

Er war aufgeregt, aber die anderen waren aufgeregter. Sie kannten den Ruf, der ihm vorauseilte, und die Zeiten, die er schon als Junior geschwommen war. Sie waren dabei gewesen, als er im Jahr zuvor – mit gerade einmal sechzehn – seinen ersten Olympiafinal erreichte. Sie hatten gehört, wie die Leute ihn als Wunderkind bezeichneten, als ein Phänomen, das nur alle paar Jahrzehnte vorkommt. Und natürlich wussten sie, dass alle, wirklich alle von ihm erwarteten, dass er noch besser würde.

Trotzdem fragten sie sich: Wie war es möglich, dass sie mit ihren Muskeln nichts gegen ihn ausrichten konnten?

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Nach dem Rennen erging es ihnen wie einem seiner Finalgegner über 200 Meter an den Weltmeisterschaften wenige Wochen zuvor. Als der aus dem Wasser stieg, sagte er: «Wenn ich nach Hause komme, werde ich mir nicht mein Rennen ansehen. Ich werde mir sein Rennen ansehen, um rauszubekommen, was genau er gemacht hat.» Es war nicht irgendein Gegner. Es war der Weltmeister über 400 Meter, der Australier Elijah Winnington.

Im Juni 2022 die Weltmeisterschaften in Ungarn, im Juli die Junioren-Europameisterschaften in Rumänien, im August die Europameisterschaften in Italien und im September die Junioren-Weltmeisterschaften in Peru: Es war ein langer Wettkampfsommer (bedingt durch Corona-Absagen in den Vorjahren). Und es war der Sommer, in dem David Popovici – das I am Ende wird nicht ausgesprochen, also: «Popowitsch» – das Schwimmen neu erfand.

Nicht weil er schneller war. Sondern weil er etwas grundsätzlich anders machte.

Aber was genau?

Die Frage führt mich im März 2023 in die rumänische Hauptstadt Bukarest, wo David Popovici mit seinen Eltern Mihai und Georgeta lebt. Er hat einen älteren Bruder, aber der ist vor ein paar Jahren ausgezogen. Meistens trainiert er im Schwimmbad Lia Manoliu im Osten der Zwei-Millionen-Stadt, einem Bau aus den Achtzigerjahren, dem man sein Alter ansieht. Es ist ein Freibad, im Winter wird das Becken mit einem Ballondach überzogen. Der Steinboden hat Risse, die Duschen funktionieren nicht richtig.

«Hier wurde ich gross», sagt David Popovici.

«Es ist nah von unserem Zuhause», sagt seine Mutter Georgeta.

«Die Luft ist nicht so stickig wie im Hallenbad», sagt sein Vater Mihai, «und man hört die Vögel aus dem Park rundherum.»

Die Eltern? Unsportlich

Wie jeden Morgen – frei hat er nur am Sonntag – ist David Popovici um 4.30 Uhr aufgestanden. Wobei «aufgestanden» nicht ganz richtig ist. Um 4.30 Uhr brachte ihm sein Vater das Frühstück ans Bett. Er nahm es im Halbschlaf zu sich und legte sich noch einmal hin. Es gab Joghurt mit Beeren, Haferflocken, Nüssen, Mandeln, Bananen und Honig.

Mihai und Georgeta Popovici nennen es die «Frühschicht». Sie wechseln sich damit ab. «Ich weiss, dass das verrückt klingt», sagt Mihai. «Aber wir haben festgestellt, dass für David zwei Stunden vor dem Training der ideale Zeitpunkt zum Essen ist.»

Herausragende Sportlerinnen und Sportler erkennt man daran, dass sie mit nichts zu vergleichen sind ausser mit sich selbst. Und daran, dass häufig schon ihre Mütter und Väter gut im Sport waren.

Auf die Popovicis trifft das nicht zu. Mihai kann bis heute nicht richtig schwimmen. Georgeta hat Psychologie studiert, er eine Ausbildung zum Kaufmann gemacht. Sie arbeitete mit Kindern mit einer Entwicklungsstörung, er für ein Pharmaunternehmen.

Für ihren Sohn stellten sie ihr Leben um. David war da gerade neun. Sie sagen, sie hätten gesehen, dass er Spass am Schwimmen hat. Vermutlich sahen sie aber auch: dass er ein Talent fürs Schwimmen hat.

Georgeta wurde Hausfrau, damit das Essen fertig war, wenn David vom Training kam, und sie ihm bei den Schulaufgaben helfen konnte. Mihai arbeitete etwas länger in seinem Beruf, doch seit letztem Sommer hat auch er eine neue Rolle: Er kümmert sich nun um Davids Management. Und weil er und seine Frau sich geschworen haben, nichts von dem Geld anzufassen, das der Sohn mit Sponsorenverträgen verdient, hat der Vater als Brotjob die Leitung der Nachwuchsabteilung des Schwimmvereins übernommen.

«Ich schlafe vier, vielleicht fünf Stunden pro Nacht», sagt er.

Vor zehn Jahren wäre beinahe alles anders gekommen. David Popovici war Mitglied des besten Schwimmvereins im Land, dessen Nachwuchsteam jede rumänische Meisterschaft dominierte. Doch abgesehen von seinen Leistungen passte er nicht so recht in die Trainingsgruppe, er blödelte herum, war mit den Gedanken woanders, erfand ständig fadenscheinige Gründe für eine Toilettenpause. Seine Trainer waren genervt.

«Das klappt nicht mit dem», sagten sie irgendwann zu seinem Vater.

«Ihr werft ihn raus?», fragte Mihai.

Naja, sagten sie – so erzählt es Mihai –, David könne es noch bei dem da drüben versuchen. Sie zeigten auf einen jungen Trainer auf der anderen Seite des Beckens, der neu die Anfänger betreute.

Der Trainer – das war Adrian Rădulescu.

Ein Fünfundzwanzigjähriger – in Trainerjahren fast noch ein Kind –, der gerade das Studium der Sportwissenschaften abgeschlossen hatte. Rădulescu galt als Nerd, der nachts Bücher über Trainingslehre las, Youtube-Videos grosser Sportler schaute, sich in Arbeiten über die physikalischen Eigenheiten des Schwimmens vertiefte.

Dass Rădulescu – er promovierte später zu den «Dynamiken von Zonentraining bei vorpubertären und pubertären Schwimmerinnen und Schwimmern» – und Popovici bis heute zusammenarbeiten, ist fast so ungewöhnlich, wie es Popovicis Erfolge sind. Wenn man jung ist, wechselt man im Normalfall alle paar Jahre den Trainer, nimmt im Verein immer die nächsthöhere Stufe. Aber Rădulescu und Popovici stiegen gemeinsam auf.

Alles, was Popovici übers Schwimmen weiss, weiss er von Rădulescu, umgekehrt sagt Rădulescu: «David hat mir die Grenzen meines Wissens über das Schwimmen gezeigt. Durch ihn war ich gezwungen, mehr zu lernen …», Rădulescu schaut mich eindringlich an, als wolle er mir ein Geheimnis verraten, «… und je mehr ich von ihm lerne, desto besser verstehe ich, wie wenig ich weiss.»

Ich denke, also schwimm ich:  David Popovici in seinem Element.

Es ist eines der Mysterien erfolgreicher Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler oder Trainerin und Athletin, dass sie nicht der klassischen Hierarchie eines weisen Lehrmeisters und eines wissbegierigen Novizen folgen müssen, sondern wechselseitig sein können, ja vielleicht sogar sein müssen, damit beide aneinander wachsen.

«Der Fehler», sagt Rădulescu, «liegt in der Art, wie wir als Gesellschaft die Rollen von Trainern und Sportlern strukturiert haben. Als Trainer erwartest du, dass die Schwimmer vom ersten Moment an genau das tun, was du ihnen sagst. Du willst, dass sie dir folgen. Aber das ist nicht zwingend richtig. Manchmal musst du als Trainer auf deine Athleten hören, musst umdenken – dich anpassen, um sie zu verbessern.»

Als Rădulescu den jungen Popovici in seiner Gruppe aufnahm, merkte er schnell, warum es mit den anderen Trainern, die eher mit herkömmlichen Methoden arbeiteten, nicht funktioniert hatte: «David ist nicht der Typ, der blindlings Befehle befolgt. Er will wissen, warum er etwas tun soll. Versteht er es nicht, hängt er ab. Erklärt man ihm aber, warum eine Übung Sinn ergibt, leistet er mehr als andere.»

Während die anderen Vollgas gaben, weil sie zeigen wollten, wer der Stärkste ist, und dabei immer müder wurden, schwamm Popovici nur gerade so schnell, dass er als Zweit­­letzter nicht ausschied.

Das ist die eine Stärke von Rădulescu: dass er zuhört. Die andere ist, dass er genauer hinschaut. Viele Trainer haben ein glasklares Bild davon, wie eine Übung ausgeführt werden soll. Sie sehen ein perfektes Rennen vor sich, das entstehen kann, wenn der Athlet die Anweisung perfekt umsetzt, aber oftmals auch: den perfekten Körper mitbringt.

Aber was, wenn man es mit einem Sportler zu tun hat, der den gängigen Vorstellungen widerspricht?

Damals war in den Trainings von Popovicis Verein ein Spiel populär: Alle Schwimmer reihen sich nebeneinander am Beckenrand auf und schwimmen gleichzeitig los. Der Letzte, der auf der anderen Seite anschlägt, scheidet aus. So geht das Runde für Runde, bis der Sieger feststeht.

Popovici war nicht der Schnellste der Gruppe – er war dünn und noch eher klein –, aber dieses Spiel gewann er immer. Während die anderen in jeder Runde Vollgas gaben, weil sie von Beginn weg zeigen wollten, wer der Stärkste ist, und dabei immer müder wurden, schwamm er nur gerade so schnell, dass er jeweils als Zweitletzter nicht ausschied.

Er war nicht faul, wie die anderen Trainer dachten. Er war clever. Er verausgabte sich nicht, er löste die Aufgabe, die man ihm stellte.

Der übers Wasser schwebt

Eine der ersten Lektionen, die ein junger Schwimmer im Verein lernt, lautet: Hole im Freistilschwimmen unter keinen Umständen nur auf einer Seite Luft, sondern atme abwechselnd auf beide Seiten. Nur so ist eine stabile Wasserlage möglich. Man spricht dann von einer Dreier- oder Fünfer-Atmung, was bedeutet, dass der Schwimmer den Mund jeweils nach drei oder fünf Armzügen zum Atmen über Wasser führt. Links, dann rechts, dann wieder links.

David Popovici aber atmet immer nach zwei oder vier Armzügen, dreht den Kopf zum Luftholen nur auf eine Seite: nach rechts. Dazu hüpft sein Oberkörper auf und ab, was seinem Schwimmen etwas Asynchrones verleiht.

Klingt nicht besonders ästhetisch, und tatsächlich wurde er, wie er mir bei unserem ersten Gespräch am Beckenrand erzählt, für diese galoppierende Bewegung oft gerügt. Doch in der Asynchronität steckt ein Rhythmus, und weil er sehr hoch im Wasser «liegt» – so wird im Schwimmen die Position des Körpers beschrieben – und über einen sehr effizienten Armzug verfügt, entsteht das Gesamtbild eines Schwimmers, der fast über dem Wasser schwebt. Der nicht gegen das Wasser kämpft, sondern im Wasser gleitet.

Erfolg ist eigentlich etwas sehr Nüchternes: Analyse plus Kapital plus Ausführung. Aber manchmal ist Erfolg etwas Zauberhaftes, Umwerfendes, das nur entsteht, weil das Unwahrscheinliche eintritt. Hier geschah genau das: Popovici mit seinem eigenwilligen Stil traf auf Rădulescu, der ihm diesen Stil nicht austreiben wollte, sondern ihn darin sogar unterstützte, weil er die Abweichung von der Norm als Vorteil sah.

In diesen 90 Sekunden lernt man Grundl­egendes über sich: Wie viel Schmerz bin ich bereit zu ertragen? Bleibe ich bis zum Schluss konzentriert?

Am Morgen meines Besuchs in Bukarest steht ein anspruchsvolles Training auf dem Programm, streng für den Körper, aber mehr noch für den Kopf: 16-mal 100 Meter bei fast voller Intensität, Start alle zweieinhalb Minuten. Popovici soll jeden 100er in etwa 56 Sekunden schwimmen – 10 Sekunden über seinem Weltrekord –, danach hat er rund 90 Sekunden Pause.

90 Sekunden sind nicht wenig, aber es ist auch nicht besonders viel. Es ist genau so viel, dass man sich nicht richtig erholt.

Man lernt dabei Grundlegendes über sich: Wie viel Schmerz bin ich bereit zu ertragen? Wie lange kann ich durchhalten? Bleibe ich bis zum Schluss konzentriert?

Es ist eine brutale Serie in einer brutalen Trainingsphase: Das winterliche Ausdauertraining mit den langen Strecken und niedrigen Intensitäten ist vorbei, das sommerliche Sprinttraining (kurze Strecken, hohe Intensitäten) steht noch bevor. Jetzt arbeitet Popovici am sogenannten Stehvermögen. Für einen 100-Meter-Schwimmer ist es die wichtigste, aber auch die am schwierigsten zu trainierende Eigenschaft.

Stehvermögen ist die Qualität, die einen Schwimmer ermächtigt, auf den letzten Metern eines Rennens nicht einzubrechen. Jeder Schwimmer wird zum Ende hin langsamer, aber wer ein besseres Stehvermögen hat, wird etwas langsamer langsamer.

Wenn David Popovici im Sommer wieder Gold gewinnen will – in Fukuoka, Japan, findet im Juli die WM statt –, muss er sich jetzt diese Serie antun. Es ist eine Binsenweisheit, aber das macht sie nicht weniger wahr: Man erntet im Wettkampf, was man im Training gesät hat. Bloss, dass Popovicis Training im Vergleich zu Ball- oder Teamsportarten nichts Spielerisches, nichts Freudvolles, nichts Gemeinsames hat. Es ist stumpfe, schmerzhafte, einsame Monotonie.

Wer Freude am Schwimmen hat, mag das mögen: die Ruhe, die Eleganz, dieses Durchs-Wasser-Gleiten und Mit-dem-Wasser-Einswerden. Aber es bleibt stumpfe Monotonie. Der Trick ist, die Monotonie lieben zu lernen. Ein Armzug nach dem anderen. Länge um Länge. Training für Training. Zweimal am Tag. Zwölfmal pro Woche. Jahr für Jahr für Jahr.

Er lächelt, als ich ihn mit der Frage konfrontiere, und sagt: «Hoch­leistungs­schwimmen ist eigentlich ziemlich langweilig. Es führt kein Weg daran vorbei, diese Lange­weile zu akzeptieren.»

Als ich vor meiner Abreise nach Bukarest Schweizer Schwimmer fragte, was sie von David Popovici wissen möchten, erlebte ich zwei interessante Dinge. Erstens meldeten sich viel mehr Leute, als ich kontaktiert hatte – wenn mir bis dahin nicht klar gewesen sein sollte, wie viel er anderen Schwimmerinnen bedeutet, so wusste ich es jetzt. Zweitens wollten viele Schwimmerinnen und Schwimmer eine Sache besonders genau wissen: Wie motiviert sich Popovici?

Er lächelt, als ich ihn mit der Frage konfrontiere, und sagt: «Hochleistungsschwimmen ist eigentlich ziemlich langweilig. Wettkämpfe, die wirklich zählen, hat man vielleicht zwei oder drei pro Jahr. Den Rest der Zeit verbringt man mit Training. Man schwimmt auf einer Bahn, manchmal zu zweit, manchmal alleine, und starrt auf eine schwarze Linie. Es führt kein Weg daran vorbei, diese Langeweile zu akzeptieren. Sie ist ein schwieriger, aber auch schöner Teil des Prozesses.»

Was ist daran schön?

«Wissen Sie, wie viele Leute mich schon gefragt haben, warum ich mir das antue – dieses eintönige, anstrengende, oft schmerzhafte Training? Sie denken, ich würde Opfer bringen, auf meine Jugend verzichten. Aber es sind keine Opfer. Es ist eine Wahl. Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich anders sein und etwas Besonderes leisten wollte.»

Schwieriger, aber auch schöner Teil des Prozesses: David Popovici im Training in Bukarest.

Ich überlege kurz, warum wir eigentlich so häufig erstaunt sind, wenn junge Menschen so früh und so viel Energie in eine einzige Sache stecken. Ist es nicht eher so, dass es dafür nie eine bessere Zeit gibt als in der Jugend? Wenn man jung ist, weiss man noch fast nichts, kennt noch nicht alle Fehler, die man machen kann. Je älter wir werden, desto mehr wissen wir über die Möglichkeit des Misslingens und die Schwere mancher Aufgaben, und desto vorsichtiger und berechnender werden wir. Was, wenn das Alter gar nicht Weisheit bringt, sondern Ängstlichkeit?

«Was denken Sie?»

Den Schmerz überwinden

Popovicis Frage reisst mich aus meinen Gedanken. Er hatte mich genau beobachtet, so wie er überhaupt ein sehr aufmerksamer, angenehmer Mensch ist. Viele Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, denen ich begegnet bin, sind ungeduldig und mit sich beschäftigt, wollen am liebsten jedes Interview schnell hinter sich bringen. Popovici ist auch hier anders.

Ich frage ihn, ob sich Schwimmen für ihn so leicht anfühlt, wie es von aussen den Eindruck macht.

Er lacht.

«Es gibt beim Schwimmen Momente, in denen ich denke: Doch, hier bin ich zu Hause. Aber nie, nie, nie könnte ich sagen, dass mir Schwimmen leichtfällt. Dass es so ausschaut, das wünsche ich mir allerdings sehr.» Er denkt ein wenig nach.

Dann fährt er fort. «Ich bewundere beim Essen nicht den Koch, der mit exotischen Zutaten ein kompliziertes Menü zubereitet. Ich bewundere jenen Koch, der mit wenigen Zutaten etwas Einfaches zaubert, das umwerfend schmeckt.»

Als ich noch über das Bild nachdenke, spricht Popovici schon weiter – übrigens in Oxford-Englisch, auch das beherrscht er perfekt.

«Jedes Training ist anders, eines aber ist immer gleich: der Schmerz. Es schmerzt. Es schmerzt immer. Nur wenn man den Schmerz aus dem Training kennt, kann man ihn im Wettkampf überwinden. Man muss eine Beziehung zum Schmerz aufbauen, damit man nicht überrascht ist, wenn im Rennen die Arme zu schmerzen beginnen und sich die Beine anfühlen, als würden sie abfallen.»

Wann macht Schwimmen Spass?, frage ich.

«Schwimmen macht nicht im herkömmlichen Sinne Spass. Ich habe nicht Freudentränen in den Augen, wenn ich aus dem Wasser steige. Aber ich bin zufrieden, weil ich im Gleichgewicht bin. Das ist meine Definition von Glück.»

Rumänien ist kein Schwimmland. Seit dem Zusammenbruch der Ceaușescu-Diktatur im Jahr 1989 und dem Ende der staatlichen Sportförderung ist es noch nicht einmal mehr ein Sportland. Das Fussballnationalteam nahm seit einem Vierteljahrhundert nicht an Weltmeisterschaften teil, der letzte grosse Sportstar war die Tennisspielerin Simona Halep (die jetzt unter Dopingverdacht steht).

Für seine Heimat hat Popovici eine andere Bedeutung als für die internationale Schwimmwelt. In Rumänien ist er nicht der Mann, der den Schwimmsport neu erfindet. In Rumänien ist er das Gesicht der ersten Generation, die weder die Diktatur noch die Zeit unmittelbar danach erlebt hat. Er verkörpert Hoffnung.

Ziemlich unglamourös: Das Becken, in dem das Jahrhunderttalent Popovici trainiert.

Die Journalistin Andreea Giuclea, geboren kurz vor der Wende, sagt mir bei einem Kaffee in Bukarest: «Wie viele Rumäninnen und Rumänen, die in der Übergangszeit aufgewachsen sind, bin ich der Zukunft gegenüber eher skeptisch eingestellt. Die Generation, die auf uns folgt, ist zuversichtlicher. Es ist Popovicis Generation.»

David Popovici sieht keinen Grund, etwas an seinem Leben in Bukarest zu ändern. Schon gar nicht zieht es ihn – wie viele europäische Schwimmerinnen und Schwimmer – in die USA. Er glaubt nicht, dass dort alles besser ist, trotz des hervorragenden Rufs des amerikanischen Collegesportsystems.

«Bukarest ist meine Stadt», sagt er. «Ich kenne noch lange nicht jede Ecke, wissen Sie, ich liebe es einfach, aufs Velo zu steigen und mich in den Strassen zu verlieren.»

Zum ersten Mal von ihm hörte die Journalistin Giuclea im Jahr 2019, als er Gold an den europäischen Jugendspielen gewann und über 100 Meter die schnellste Zeit erzielte, die je ein Vierzehnjähriger geschwommen war: 49,82 Sekunden. «Ich nahm mir vor, ihn zu treffen, aber dachte, dass ich noch Zeit habe. Er war ein Kind.»

Als Popovici in Budapest Welt­­meister wurde, war das Rennen in seiner Heimat gar nicht zu sehen. «The revolution will not be televised», schrieb Popovici auf Instagram.

Doch schon zwei Jahre später erreichte er an den Olympischen Spielen in Tokio den Final, und Giuclea verstand, dass sie sich beeilen musste.

«Er redete sehr klar über seine Ziele», erzählt sie mir, «aber ich spürte auch, dass es für ihn kein Unglück wäre, wenn er sie nicht erreichen würde. Er wirkte so erwachsen und war gleichzeitig noch ein Kind, er war freundlich und nahm sich Zeit.»

Im Sommer 2022 – nur ein Jahr später – nahm ganz Rumänien von ihm Notiz, allerdings mit Verzögerung. In Budapest wurde Popovici Weltmeister über 200 Meter, doch in seiner Heimat war das Rennen gar nicht zu sehen. Keine Fernsehstation hatte die Senderechte erworben, ausser Giuclea war auch keine rumänische Journalistin vor Ort. «The revolution will not be televised», die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen, schrieb Popovici auf Instagram, den legendären Song des legendären Soulmusikers Gil Scott-Heron zitierend.

Es gibt vier Schwimmarten – Schmetterling, Rücken, Brust und Freistil – und verschiedene Distanzen von 50 bis 1500 Meter. Bezeichnet man den 100-Meter-Weltrekordhalter Popovici als schnellsten Schwimmer der Geschichte, ist das genau genommen nicht ganz richtig, denn da ist auch noch der 50-Meter-Weltrekordhalter, und dessen Höchstgeschwindigkeit liegt wegen der kürzeren Distanz etwas höher.

Das Rennen mit dem grössten Prestige ist aber jenes über 100 Meter, was an zwei Dingen liegt. Erstens sind die 50 Meter Freistil erst seit 1988 olympisch, die 100 Meter schon seit 1896. Zweitens sind die 100 Meter dem Publikum wegen der Parallele zur olympischen Kernsportart Leichtathletik geläufiger.

Würde man ihn fragen, hätte an dieser Interpretation wohl nicht einmal der 50-Meter-Weltrekordhalter etwas auszusetzen. Dabei hätte der allen Grund, denn es ist der Brasilianer César Cielo, der – bis Popovici kam – auch die Bestmarke über 100 Meter hielt.

Aber was ist es denn nun, das David Popovici zum schnellsten 100-Meter-Schwimmer der Geschichte macht, schneller als all die Muskelpakete, schneller als César Cielo? Was umso erstaunlicher ist, wenn man weiss, dass im Jahr 2009, als Cielo den Rekord aufstellte, noch das Tragen von Ganzkörperanzügen erlaubt war. Ein zentrales Element dieser Anzüge war, dass sie die Schwimmer schneller machten, indem sie ihnen Auftrieb verliehen. Selbst schwere Körper konnten plötzlich über Wasser schweben.

Kraft ist nicht gleich Kraft

Ich unterhalte mich mit Dennis Born, einem Trainingswissenschaftler an der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen. Born ist die Person, die noch mehr Videos von Popovici gesehen hat als ich. Zusammen mit tschechischen Berufskolleg:innen hat er Popovicis Leistungsentwicklung analysiert und letztes Jahr einen Fachartikel darüber veröffentlicht. Drei Dinge lerne ich von ihm (Achtung, jetzt wird es kurz etwas technisch, dafür gibts am Ende eine schöne Lektion fürs Leben).

Erstens: Ein muskulöser Schwimmer hat nicht zwingend mehr Kraft als ein weniger muskulöser Schwimmer. Das liegt daran, dass sich Kraft aus zwei Komponenten zusammensetzt, zum einen die aktive Masse, mit der man Kraft produziert, also die schiere Grösse des Muskels, zum anderen die Qualität des Muskels. Es geht um das neuromuskuläre Zusammenspiel.

Wie viele Muskelfasern kann ein Schwimmer gleichzeitig effizient einsetzen, und wie gut arbeiten die grossen und die kleinen Muskelgruppen zusammen? Dennis Born sagt: «Schauen Sie sich die Hochspringer an. Die sind sehr dünn, haben in den Beinen aber eine extrem hohe Maximalkraft. Das ist zum Teil natürlich genetisch, doch man kann das auch trainieren. Man kann sehr stark werden, ohne viel Gewicht zuzulegen.»

Auf Popovici bezogen bedeutet das: Er ist möglicherweise stärker, als sein Äusseres es vermuten lässt.

Popovici ist 10 bis 20 Kilo leichter als die Konkurrenz. Wenn er für 100 Meter 67 Armzüge benötigt, bedeutet das, er muss 67-mal 10 bis 20 Kilo weniger Körper­masse durchs Wasser ziehen.

Zweitens: Es gibt Sportarten, bei denen die Maximalkraft entscheidend ist – Gewichtheben zum Beispiel. Schwimmen gehört nicht dazu. Beim Schwimmen geht es um die Relativkraft, also das Verhältnis aus Maximalkraft und Körpergewicht.

Born nennt es das Kraft-Last-Verhältnis. Er sagt: «Das Gewicht spielt im Wasser nicht die gleiche Rolle wie an Land, weil das Wasser uns trägt. Trotzdem liegt ein schwerer und muskulöser Körper natürlich tiefer im Wasser als ein leichter – und bietet durch die voluminöse Form mehr Frontalwiderstand.» Übersetzt auf die Popovici-Situation: Je leichter und schlanker der Körper, desto weniger Kraft ist erforderlich, um im Wasser voranzukommen.

Drittens: Popovici ist 10 bis 20 Kilo leichter als die Konkurrenz. Wenn er für 100 Meter 67 Armzüge benötigt, bedeutet das, dass er 67-mal 10 bis 20 Kilo weniger Körpermasse durchs Wasser ziehen muss. Kein Wunder, ermüdet er später.

Doch das ist nur die eine Erklärung dafür, warum Popovici vor allem gegen Ende des Rennens schneller unterwegs ist als die Konkurrenz. Die andere hängt mit dem bereits erwähnten Stehvermögen zusammen. Wenn man im Schwimmen von Stehvermögen spricht, meint man nicht nur die Belastbarkeit des Körpers. Man meint auch den Kopf. Je besser die Konzentrationsfähigkeit, desto länger gelingt es einem, eine gute Technik aufrechtzuerhalten.

«Schwimmen ist technisch so anspruchsvoll», erklärt Trainingswissenschaftler Born, «dass die Unterwasserphase des Armzugs nur geringfügig an Effizienz einbüssen muss, und schon kann man es nicht mehr mit Muskelkraft oder Ausdauer wettmachen.»

Und tatsächlich ist genau dies der Moment, in dem David Popovici seine Rennen gewinnt: auf den letzten Metern. Oft liegen bei 75 Metern noch mehrere Gegner vor ihm, doch dann ermüden sie stark und verlieren ihre Technik. Sie greifen mit ihren Händen nicht mehr richtig das Wasser, weichen dem Druck aus, ziehen langsamer.

Es ist eine ewige Frage für 100-Meter-Schwimmer: Legst du dir mehr Muskeln zu mit dem Risiko, am Ende einzubrechen? Oder legst du dir weniger Muskeln zu mit dem Risiko, dir am Anfang zu viel Rückstand einzuhandeln?

Ein 100-Meter-Rennen läuft folgendermassen ab: Nach dem Startsprung schwimmt man 50 Meter, dann kommt die Wende, dann schwimmt man 50 Meter zurück. Im Normalfall absolviert ein Weltklasseschwimmer die zweiten 50 Meter etwa zwei Sekunden langsamer als die ersten: Der Startsprung fehlt, und der Schwimmer wird müde.

Für Nicht­schwimmerinnen: Wasser­­gefühl bedeutet, dass man spürt, wie man die Hand aufs Wasser legen muss, damit man vorwärts­­kommt. Wann ist der ideale Moment, um den Ellen­­bogen anzuwinkeln? 

Im Jahr 2009 war César Cielo zuerst wahnsinnig schnell – 22,17 Sekunden für die ersten 50 Meter –, dann wurde er sehr schnell viel langsamer: 24,74 Sekunden für die zweiten 50 Meter. Differenz: 2,57 Sekunden.

Im Jahr 2022 war David Popovici zuerst schnell – 22,74 Sekunden für die ersten 50 Meter –, und dann … blieb er einfach schnell: 24,12 Sekunden für die zweiten 50 Meter. Differenz: 1,38 Sekunden. Geht man davon aus, dass ein Startsprung im Unterschied zu einer Wende einen Zeitgewinn von 1 bis 1,5 Sekunden bedeutet, war Popovici auf der zweiten Rennhälfte gleich schnell wie auf der ersten.

Es klingt esoterisch, doch selbst der Trainingswissenschaftler Dennis Born, der sich auf Zahlen und Fakten verlässt, benutzt im Gespräch irgendwann ein Wort, das nur Schwimmerinnen und Schwimmer verstehen: Wassergefühl. «Es gibt wenige, die auch im Zustand grosser Ermüdung ein so gutes Wassergefühl aufrechterhalten können wie Popovici», sagt er.

Für Nichtschwimmerinnen und Nichtschwimmer: Wassergefühl bedeutet, dass man spürt, wie man die Hand aufs Wasser legen muss, damit man vorwärtskommt. Wann ist der ideale Moment, um den Ellenbogen anzuwinkeln? Wie stark sollte das Handgelenk gebeugt sein? Wie weit können die Finger auseinanderliegen?

David Popovici hat auf alle diese Fragen eine Antwort gefunden. Andere Schwimmer haben diese Antwort vielleicht auch. Aber sie haben sie nicht über die ganze Dauer des Rennens. Das ist es, was Popovici einzigartig macht: dass er die Perfektion bis zum Ende durchhält.

Adler? Schwertwal? Libelle!

Erinnern Sie sich an die Serie aus Popovicis Morgentraining? 16-mal 100 Meter in 56 Sekunden. Das war die Vorgabe. Eigentlich ist es unmöglich, jeden 100er exakt in 56 Sekunden zu schwimmen. Kein Schwimmer hat ein so genaues Zeitempfinden, zumal sich Geschwindigkeit mit zunehmender Erschöpfung anders anfühlt. Die 56 Sekunden dienen einfach als grobe Orientierung. Eine Zeit zwischen 55 und 58 gilt als erreicht.

Popovici aber schwamm jeden 100er in genau 56 Sekunden. Klar, mal in 56,1 Sekunden, mal in 56,8 Sekunden. Aber nie unter 56 und nie über 57 Sekunden. Sein Trainer Adrian Rădulescu sagte, dies sei eine seiner Stärken: dass er genau spüre, wie schnell er schwimme.

Einer der grössten Fans von David Popovici ist Brett Hawke, was schon für sich genommen eine Erwähnung wert wäre, denn der Australier Hawke – selbst ein ehemaliger Weltklasseschwimmer – war der Trainer von César Cielo, als der den 100-Meter-Weltrekord schwamm. Popovici und Rădulescu haben nicht Cielo abgelöst, sie haben Cielo und Hawke abgelöst.

Heute ist Hawke in der Schwimmszene aus anderen Gründen ein Star: Er hat einen Podcast, den man einfach gehört haben muss. Zehntausende schalten ein, wenn er seine Interviews mit Schwimmerinnen und Schwimmern live auf Youtube überträgt, die Gespräche im Plauderton scheinen nie besonders tief zu gehen, und dann tun sie es doch.

Als Popovici vor zwei Jahren zum ersten Mal zu Gast in der Show war – da war er gerade Juniorenweltrekord geschwommen –, sagte ihm Brett Hawke zur Begrüssung: «Als ich von deiner Zeit erfuhr, kannte ich dich noch nicht und dachte: Nie im Leben kann ein Sechzehnjähriger so schnell schwimmen. Der muss gedopt sein.» Dann sagte er: «Aber dann sah ich, wie schön du schwimmst, und alles ergab Sinn.» Popovici lachte.

Von seinem Material­ausrüster wurde er gebeten, über ein Tier nach­zudenken, mit dem er sich identifizieren könne. Man plane eine eigene Linie mit Popovici-Bade­hose und Popovici-Badekappe.

Am Ende meines langen Gesprächs mit Popovici in Bukarest verstand ich, dass manchmal auch er über den Beweis staunt, der ihm vor den Augen der ganzen Welt gelungen war – dass man nicht zwingend ein Muskelpaket sein muss, um gegen Muskelpakete zu bestehen. Folgende Begebenheit erzählte er mir:

Vor einiger Zeit sei er von seinem Materialausrüster gebeten worden, über ein Tier nachzudenken, mit dem er sich identifizieren könne. Man plane eine eigene Produktelinie mit Popovici-Badehose und Popovici-Badekappe. Er fühlte sich geehrt. Und wie immer, wenn ihm etwas wichtig ist, überlegte er lange. Sollte es ein Adler sein, ein Hai, oder würde ein Schwertwal ihn am besten symbolisieren? Auf jeden Fall ein Tier an der Spitze einer Nahrungskette, gross, furchteinflössend.

Denn war er als schnellster Schwimmer der Welt nicht genau das?

Seine Freundin, die in Bukarest das gleiche Gymnasium wie er besucht, hatte eine andere Idee. «Wenn du schwimmst, erinnerst du mich an eine Libelle», sagte sie. Popovici stutzte. Dann las er ein paar Dinge über die Libelle und dachte, dass seine Freundin vielleicht Recht hatte.

Die Libelle kann schwimmen und fliegen, doch meistens macht sie keins von beidem. Eher schwebt sie, schwirrt über das Wasser, pfeilschnell und mühelos. Sie ist ein unscheinbares Insekt, das seine Klugheit und Schönheit erst bei genauem Hinsehen offenbart.

Das ist die Botschaft des Weltrekordhalters und Schwimmrevolutionärs David Popovici: Lass dir von niemandem sagen, dass du den falschen Körper hast. Das Gegenteil kann immer auch richtig sein. 

Christof Gertsch ist Reporter bei «Das Magazin». christof.gertsch@dasmagazin.ch

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