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«Design Thinking erkundet die volle Bandbreite des Lebens»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 19. September 2015
Hans Kaspar Hugentobler, Experte für Design Thinking.

Hans Kaspar Hugentobler, Experte für Design Thinking.

Viele Führungskräfte stützen sich bei ihren Strategien auf die Analyse der Vergangenheit. Sie gleichen Autofahrern, die am Steuer permanent in den Rückspiegel blicken. Design-Thinking-Pionier Hans Kaspar Hugentobler empfiehlt, vermehrt bildhaft in Szenarien zu denken. Oft entstünden die besten Innovationen dann, wenn kluge Köpfe ihrer Neugier folgen und Neuland betreten.

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Hugentobler, immer wieder erobern Management-Methoden aus den USA die europäischen Chefetagen. Derzeit ist der Ansatz «Design Thinking» in aller Manager Munde. Ist das einfach alter Wein in neuen Schläuchen oder wird Design Thinking die Arbeitswelt verändern?

HANS KASPAR HUGENTOBLER: Vergleichen wir die Unternehmensführung kurz mit der Steuerung eines Autos: Viele klassisch ausgebildete Manager verhalten sich wie Automobilisten, die permanent in den Rückspiegel blicken, um sich auf der Strasse zurechtzufinden. Sie messen und analysieren die Vergangenheit und planen auf dieser Basis die Zukunft. Design Thinking erlaubt es Führungskräften, durch die Windschutzscheibe die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu erkennen und in einer Art 180-Grad-Panorama verschiedene Szenarien zu betrachten.

Warum ist das heute wichtiger als noch vor 10 Jahren?

Die Innovationszyklen haben sich dramatisch verkürzt, deshalb braucht es Ergänzungen zu den etablierten Management-Ansätzen. Wenn disruptive Technologien dazu führen, dass erfolgreichen Produkten oder gar Geschäftsmodellen in kürzester Zeit der Boden entzogen wird, sind Unternehmen gezwungen, laufend mehrere Zukunftsszenarien zu entwickeln. Die Digitalisierung schafft grosse Unruhe und verändert nicht nur unseren Alltag, sondern auch die Unternehmenslandschaft tiefgreifend. Es ist beispielsweise gut denkbar, dass schon in fünf Jahren vorwiegend selbstgesteuerte Autos im Nahverkehr unterwegs sind. Bei so rasanten Veränderungen ist es matchentscheidend, dass sich Unternehmen, aber auch Verwaltungen und öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise Schulen und Museen nicht darauf beschränken, das Bestehende zu optimieren, sondern dass sie auch in die Erkundung sich anbahnender Problemstellungen investieren, kurz gesagt: Exploration ergänzt Exekution.

Inwiefern hilft Design Thinking bei der Exploration?

Design Thinking ist nicht nur ein hervorragendes Abstraktionsinstrumentarium, das uns erlaubt, eine Fragestellung umfassend und ergebnisoffen zu erkunden. Es hilft auch beim Bestreben, die Herausforderungen anschaulich zu vermitteln. Oft beschränken sich Firmen darauf, bestehende Produkte und Prozesse zu optimieren. Design Thinking gibt Anwendern die Möglichkeit, den Fokus zu erweitern und zu fragen: Was tun wir hier eigentlich in welchem Kontext? Und welches wären die Möglichkeiten, in Zukunft mit dieser Herausforderung umzugehen? Design Thinking erkundet die volle Bandbreite des Lebens von uns Menschen und reduziert uns nicht auf Kundensegmente. Es löst Zielkonflikte kreativ auf und unterfüttert Worte und Zahlen mit handfesten Prototypen und überraschenden Nutzungsszenarien.

Sie haben die Methode kurz nach der Jahrtausendwende im Masterstudium in Chicago kennengelernt. Wo kommt Design Thinking heute zum Einsatz?

Ich sehe hauptsächlich drei Anwendungsfelder: Beim Bestreben, den Kunden besser zu verstehen, bei akuten Befürchtungen und bei der Erschliessung neuer Tätigkeitsfelder. Viele Unternehmen sind heute noch zu stark auf Absatzsteigerung und Übernahmen fixiert. Versicherungen oder Banken etwa bieten mir die immer gleichen Produkte an, ohne dass ich als Kunde das in Verbindung mit meinem Alltagsleben und Zielen bringen kann. Der Design-Thinking-Ansatz würde diesen Unternehmen nahelegen, tiefgehender zu untersuchen, wie der Alltag ihrer Kunden eigentlich aussieht. So können neuartige Geschäftsfelder und Angebote entwickelt werden. Es geht also darum, wie ein Ethnograf mit der Taschenlampe in die Lebensrealität der Kunden zu leuchten statt bloss den Markt zu analysieren und Produkte zu optimieren.

Das klingt alles sehr abstrakt.

Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der globalen Welt: Eine Erdölfirma versucht, in Schwellenländern neue Geschäftsfelder zu erschliessen. Eine Frage könnte sein, wie man die Energienutzung der unteren Mittelschicht in China effizienter machen könnte. Eine Konsequenz wäre möglicherweise, Gemeinschaftszentren in kleinen Dörfern zu bauen, wo die Menschen statt bei sich in der Küche bei besserer Infrastruktur arbeiten könnten. Das hätte den schönen Nebeneffekt, dass sich nicht nur ihre Lebensqualität verbessern, sondern mittelfristig auch der Energiebedarf ansteigen würde und man ihnen dort auch Brennstoffpellets für zuhause verkaufen könnte.

Können Sie konkrete Beispiele aus der Schweiz nennen?

Allzu viele gibt es noch nicht, denn das Silodenken in vielen Unternehmen ist bei der Auseinandersetzung mit Design Thinking hinderlich. Wir haben mit der Geburtsklinik des Luzerner Kantonsspitals zusammengearbeitet und dort die Erfahrungen der schwangeren Frauen auf ihrem Weg von zuhause ins Spital und wieder nach Hause nachgezeichnet. Wir haben dann gemeinsam mit Ärzten, Hebammen, Pflegenden und Patientinnen Strategien entwickelt, wie Aufenthalt und Austrittsprozess neu konzipiert werden könnten. Eine Stärke von Design Thinking ist, dass man die verschiedene Perspektiven sehr anschaulich abbilden und dann gemeinsam integrieren kann. In einem anderen Beispiel durften wir V-ZUG bei der Integration visueller Design-Thinking-Methoden in die Explorationsphase des Innovationsprozesses unterstützen.

Sie gelten in der Schweiz als Pionier des Design Thinkings. Wann schafft der Ansatz den Sprung von den Hochschulen in die Unternehmen?

Das ist in vielen Fällen schon passiert, aber wir hinken in der Schweiz international gesehen hinterher. Allerdings wird die Methode zu oft isoliert verwendet, etwa als Kreativitätstechnik oder zur isolierten Optimierung von Kundenerlebnissen. Was nützt eine optimierte Website, wenn die angebotenen Produkte für die Kunden irrelevant sind? Unternehmen vertrauen auch allzu oft den internationalen Gurus, die nach getaner Arbeit wieder gehen, ohne dass die neue Kompetenz in die Firma integriert worden wäre. Design Thinking ist aber mehr als eine Technik, es ist eine Philosophie. Unternehmen profitieren dann am meisten davon, wenn das oberste Management sich zum Nicht-Wissen bekennt und so Raum für Experimentierfelder, unternehmerisches Denken und Agilität schafft. Interessant wird es immer dann, wenn heterogene Teams aus verschiedenen Abteilungen sich einer Fragestellung widmen und ganz unterschiedliche Perspektiven einbringen. Oft entstehen die besten Lösungsansätze fernab jeder Expertise, nämlich dort, wo kluge Köpfe Neuland betreten und ihrer Neugier folgend gegen vieles verstossen, was bis dahin als selbstverständlich galt.

Kontakt und Information:

hugentobler@maloya-labs.com

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4 Kommentare zu “«Design Thinking erkundet die volle Bandbreite des Lebens»”

  1. Ronnie König sagt:

    Die Schweiz hinkt hinterher! Wie meist. Und in einem so konservativen Land soll das funktionieren? Die Bosse zugeben, dass sie von gestern sind und oft wenig oder nix verstehen? Da ist der Weg aber lang. Und, eine Gemeinschaftsküche die mehr Energie benötigt, da sind aber eher arme Menschen nicht gerade begeistert. Weniger wäre hier mehr. Wie soll die Energie nach hause gelangen? Bei Erdöl? Einige Punkte stimmen in der Analyse und das hat sicher der eine oder andere genau so erlebt und empfunden. Aber wirklich revolutionär ist hier eigentlich nicht viel. Die Kerze wurde durch die Petrolfunzel ersetzt. Meine Meinung zu dem obigen Text. Aber das Um- und Neudenken ist sicher ein guter Weg altes zu hinterfragen und zu verbessern. Na dann warten wir mal ab. Die Dinge scheinen mir doch komplexer, als nur das Denken per se.

  2. Richard Liu sagt:

    ” Viele klassisch ausgebildete Manager verhalten sich wie Automobilisten, die permanent in den Rückspiegel blicken, um sich auf der Strasse zurechtzufinden. Sie messen und analysieren die Vergangenheit und planen auf dieser Basis die Zukunft.” So ein Quatsch. Sie schauen, ob jemand von hinten kommt, z.B. bevor sie die Spur wechseln.

  3. Ruedi Beglinger sagt:

    Das Design Thinking nützt vor allem Hans Kaspar Hugentobler. So kann er fantasielose und führungsschwache Chefs mit seinen verbalen Überzeugungskanonaden wie “Design Thinking ist nicht nur ein hervorragendes Abstraktionsinstrumentarium, das uns erlaubt, eine Fragestellung umfassend und ergebnisoffen zu erkunden” zum Abschluss einer Beratungsintervention überzeugen. So verdient er sein Geld mit dem Verkauf von bei Lichte betrachteten allgemein bekannten Weisheiten, denn dass eine Fragestellung umfassend und ergebnisoffen sein kann, darauf sollten die hoch bezahlten Manager doch eigentlich selber kommen. Design Thinking ist wohl nichts als ein Teil der Weiterbildungs- und Seminarhysterie unserer Tage und der letzten zwanzig Jahre. Wurden dadurch die Produkte besser und die Wirtschaft verantwortungsvoller hinsichtlich Umwelt und der Menschen weltweit? – Und: Der Rückspiegel ist doch gerade ein Instrument, um in einem 180-Grad-Panorama verschiedene Szenarien zu betrachten”.

  4. Es erscheint mir ein bisschen einfach, Chefs als fantasielos und Hrn. Hugentobler als “Überzeugungskanonier” zu bezeichnen. Was mir beim Design Thinking als besonders wertvoll aufgefallen ist, ist das “Doing”. Hr. Hugentobler spricht es an mit dem Wort “Prototypen”. Der Designthinker hält sich nicht gerne mit überlangen Analysen, Konzeptevaluationen und ellenlangen Diskussionsrunden auf. Er zieht es vor, die Lösung gleich zu bauen oder zu “visualisieren”, so dass Entwickler, Unternehmensleitungen und Kunden ihre Meinung zu einem konkreten Vorschlag äussern können. Dieses “Prototyping” hat den grossen Vorteil, dass man sich auf den Nutzen und die Umsetzungsfähigkeit fokussiert. Das erleichtert Entscheidungen, und mancher Chef (sowie Kunde) hat sich dabei als durchaus fantasievoll erwiesen.