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Neue Regeln für ElternHaben Kinder nun das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung?

Im Durchschnitt ist in der Schweiz in jeder Schulklasse ein Kind von körperlicher Gewalt betroffen.

Keine Schläge, keine Ohrfeigen, keine seelischen Verletzungen: Kinder sollen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung erhalten. Das Parlament hat den Bundesrat beauftragt, das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) entsprechend zu ergänzen. Mit 27 zu 8 Stimmen und 3 Enthaltungen nahm der Ständerat am Mittwoch eine Motion der Freiburger Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach an.

Gewalterfahrungen in der Kindheit belasteten Menschen das ganze Leben lang, hatte Bulliard-Marbach im Nationalrat gesagt. Im Durchschnitt sei in der Schweiz in jeder Schulklasse ein Kind von körperlicher Gewalt betroffen. Im Ständerat stellte Kommissionssprecherin Heidi Z’graggen (Mitte) fest, mehr als 1500 Kinder müssten jährlich wegen Gewalt im Spital behandelt werden. «Welch entsetzliches Leid, das den Schwächsten der Gesellschaft zugefügt wird.» Es sei Pflicht des Staates, die Kinder zu schützen.

Gegen eine neue Regelung sprach sich der Thurgauer SVP-Ständerat Jakob Stark aus. Er befürchte, das führe zu weniger Erziehung, sagte Stark. «Wir sollten Gewaltanwendung nicht pauschal verbieten.» Noch deutlicher war vor einigen Jahren der damalige Schwyzer SVP-Ständerat Peter Föhn geworden. Er sagte 2016 in einer Debatte, er sei als Kind geschlagen worden, und es habe ihm nicht geschadet: «Ich bin dankbar, dass wir eine starke Hand hatten.» 

Die Mehrheit im Rat war sich am Mittwoch einig, dass Kinder ohne Gewalt aufwachsen sollten. Doch was ändert sich mit einer neuen Bestimmung überhaupt? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Erleiden viele Kinder zu Hause Gewalt?

Rund die Hälfte aller Kinder in der Schweiz erlebt körperliche oder psychische Gewalt. Zu diesem Schluss kamen Forschende der Universität Freiburg. Im Auftrag von Kinderschutz Schweiz haben sie bei über 1000 Eltern eine Umfrage durchgeführt. Knapp 40 Prozent gaben an, ihr Kind schon einmal körperlich bestraft zu haben. Am häufigsten sind Schläge auf den Hintern. Auch psychische Gewalt ist verbreitet.

Was heisst «psychische Gewalt»?

Fast jeder sechste Elternteil übt regelmässig psychische Gewalt aus. Dazu gehören Liebesentzug, Erniedrigung oder das Einsperren des Kindes. Die Gewaltanwendung könne verheerende Auswirkungen haben – von emotionalen Beeinträchtigungen bis zu psychischen Schäden wie Depressionen, warnt Kinderschutz Schweiz.  

Dürfen Eltern heute Gewalt anwenden?

Nein, das ist schon heute nicht erlaubt. Mit der Revision des Kindesrechts von 1978 wurde das Züchtigungsrecht der Eltern abgeschafft. Die Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt gegenüber Kindern ist weder mit der Bundesverfassung noch mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar, wie der Bundesrat in einem Bericht schreibt. Das Bewusstsein dafür hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Acht von zehn Personen sagen heute, sie hätten ein schlechtes Gewissen, wenn sie gegenüber ihren Kindern Gewalt anwenden. Das sind doppelt so viele wie 2017.

Was ändert sich mit der neuen Regelung?

Neu wird die gewaltfreie Erziehung ausdrücklich geboten sein.

Wie will der Bundesrat den Auftrag genau umsetzen?

Der Bundesrat schlägt vor, einen Artikel im Zivilgesetzbuch zu ergänzen. Heute steht dort: «Die Eltern haben das Kind ihren Verhältnissen entsprechend zu erziehen und seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen.» Ergänzt werden soll: «Insbesondere haben sie das Kind ohne Anwendung von körperlichen Bestrafungen und anderen Formen entwürdigender Gewalt zu erziehen.»

Hätten Kinder damit das Recht auf gewaltfreie Erziehung?

Mit der vorgeschlagenen Regelung würde kein direkt durchsetzbarer Rechtsanspruch des Kindes geschaffen, schreibt der Bundesrat. Eltern, die sich nicht daran hielten, würden nicht kriminalisiert. 

Was bringt die Änderung dann überhaupt?

Die Befürworterinnen und Befürworter versprechen sich davon eine präventive Wirkung: ein steigendes Bewusstsein dafür, dass Gewalt in der Erziehung nichts zu suchen hat. Zum Beispiel könnten Lehrerinnen und Lehrer Eltern auf den Artikel hinweisen. Untersuchungen aus dem Ausland legen nahe, dass Gesetzesbestimmungen und begleitende Kampagnen zu einer positiven Veränderung führen. Das räumt auch der Bundesrat ein. 

Warum war der Bundesrat gegen den Auftrag?

Die Landesregierung stellte sich auf den Standpunkt, das geltende Recht genüge. Gewalt gegenüber Kindern sei schon heute nicht erlaubt. Das Ziel der gewaltfreien Erziehung lasse sich besser durch ein ausgebautes Kinderhilfesystem und Aufklärungsprogramme als durch neue gesetzliche Bestimmungen erreichen. 

Wie sind die Regeln in anderen Ländern?

In der Europäischen Union verfügen laut dem Bundesrat 23 der 27 Staaten über eine gesetzliche Regelung zu gewaltfreier Erziehung. Eine zivilrechtliche Regelung haben etwa Deutschland, Österreich, Frankreich und Dänemark. 

Wie geht es nun weiter?

Der Bundesrat wird dem Parlament einen Vorschlag für die Ergänzung des Zivilgesetzbuches vorlegen. Über die exakte Formulierung kann also das Parlament entscheiden.