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US-WahlkampfSo heiss droht Bidens Sommer zu werden

Bis Freitag wurden bei Gaza-Demonstrationen an 46 amerikanischen Hochschulen über 2400 Protestierende festgenommen: Protest vor der New York University in Manhattan (3. Mai).

Nach mehr als einer Woche geht das Protestgeschrei ganz schön auf die Nerven. Um die Ecke der Kunsthochschule New School im südlichen Manhattan dringt es durch alle Fenster, wenn Demonstrierende bis tief in die Nacht skandieren: «From the river to the sea, Palestine will be free.»

Am Donnerstagabend stehen sie sich auf der 13. Strasse gegenüber: auf dem nördlichen Trottoir eine grosse Gruppe mit Palästinenserflaggen, auf dem südlichen eine kleinere mit einer Fahne Israels. Dazwischen rollt gebührend langsam der Verkehr. Ein paar Cops verhindern, dass die erregten Studentinnen und Studenten ihre Meinungsdifferenz handfest austragen.

Der Gazakonflikt ist in den USA angekommen – und er wird das Land eine Weile beschäftigen. Leidtragender könnte Joe Biden werden, der im November als Präsident wiedergewählt werden will.

Keine Einigkeit – mit einer Ausnahme

Die Protestwelle begann Mitte April an der Eliteuniversität Columbia an Manhattans Upper East Side. Dort ist es zwar ruhig geworden, seit die New Yorker Polizei auf Ersuchen der Uni-Leitung am Dienstagabend ein besetztes Gebäude räumte und das Zeltlager im Zentrum des Campus entfernte. Aber anderswo ebben die Kundgebungen nicht ab. Laut der Nachrichtenagentur AP wurden bis Freitag bei Gaza-Demonstrationen an 46 amerikanischen Hochschulen über 2400 Protestierende festgenommen.

Teils verliefen die Räumungen friedlich, teils kam es zu Handgreiflichkeiten. Eine wichtige Rolle spielten in vielen Fällen den Hochschulen nicht zugehörige Aktivisten. Mehrere Unis, darunter Rutgers, Brown, Northwestern und die University of Minnesota, versuchten, die aufgebrachte Studentenschaft zu beschwichtigen, indem sie auf deren Forderungen eintraten. Sie wollen jetzt Investitionen in israelische oder vom Gazakonflikt profitierende Unternehmen überprüfen.

Solange Israel gegen die Hamas-Terroristen Krieg führt, werden die Proteste aber fortdauern und sich jüdische Studenten immer wieder bedroht fühlen. An eine Versöhnung zwischen den propalästinensischen und den proisraelischen Lagern ist nicht zu denken. Eine Ausnahme kam Mitte der Woche an der University of Alabama zustande, als sich gegenseitig anschreiende Gruppen Protestierender plötzlich im Chor brüllten: «Fuck Joe Biden!»

Biden in «zwei strategischen Sackgassen»

Die seltene Harmonie zeigt Bidens zentrales Problem: Er macht es niemandem recht. Der 81-jährige US-Präsident lebt grundsätzlich seiner Verbundenheit mit Israel nach und liefert dem jüdischen Staat Kriegsmaterial, bislang ohne Bedingungen zu stellen. Gleichzeitig will er die Not der palästinensischen Zivilbevölkerung lindern und drängt auf einen Waffenstillstand mit der Hamas.

Die gleiche Ambivalenz prägt Bidens Politik im Innern: Er teilt die moralische Empörung der Pro-Palästina-Demonstranten, aber er verspricht gleichzeitig, Amerikas Juden zu schützen. Biden stecke «in zwei strategischen Sackgassen, einer innen- und einer aussenpolitischen», sagt der Nahostdiplomat Aaron David Miller von der Carnegie-Friedensstiftung. «Ich weiss nicht, wie er sich aus der einen oder der anderen herauswinden kann.»

US-Aussenminister Antony Blinken und CIA-Direktor William Burns vermochten Israels Regierung auf einen neuen Waffenstillstandsplan zu verpflichten. Ob er in Kraft treten kann, hängt jetzt von der Hamas-Führung ab. Laut dem «Wall Street Journal» erwartet Premierminister Benjamin Netanyahu deren Zustimmung bis kommende Woche, sonst werde Israel mit der Invasion der Grenzstadt Rafah beginnen.

Gründe für das lange Schweigen

Biden kann vorerst nur untätig zuschauen. Auch innenpolitisch verharrte der Präsident lange in einer Beobachterrolle. Am Donnerstag wurde der Druck zu gross, und er machte in einer kurzen Ansprache zur Campus-Protestwelle klar, dass es die freie Rede unbedingt zu schützen gelte. Hingegen seien Gewalt, Zerstörung und Besetzungen ebenso wenig zu tolerieren wie antisemitische oder islamophobe Äusserungen. Auf eine inhaltliche oder moralische Beurteilung des Gazakriegs liess sich Biden nicht ein.

Das lange Schweigen des Präsidenten wird damit erklärt, dass sein Beraterstab das Aufbegehren an den Unis nicht als wahlpolitisch gefährlich einstuft. Umfragen zeigen, dass der Gazakrieg auf der Skala der wichtigsten Themen weit hinter der illegalen Einwanderung, der Inflation, der Abtreibung oder dem Schutz der Demokratie rangiert. Bloss für etwa zwei Prozent der Befragten ist der Krieg um Palästina das wichtigste Problem. 

Bei einer breiteren Wählerschaft könnte es Präsident Joe Biden schaden, wenn die Gaza-Demonstrationen allzu lange fortdauern: In New York wird die Einstellung «aller US-Hilfe an Israel» gefordert (3. Mai).

Dieser Beurteilung steht entgegen, dass in wichtigen Gliedstaaten wie Michigan oder Minnesota Araber und Muslime die Rolle des Züngleins an der Waage spielen könnten. Landesweit ist die Zahl der Muslime in der US-Bevölkerung seit 2007 um 64 Prozent auf rund 3,85 Millionen gestiegen.

Es gibt auch Hinweise darauf, dass wegen des Gazakriegs ein nennenswerter Teil der vergleichsweise doppelt so grossen jüdischen Bevölkerung den Demokraten untreu werden könnte. Viele amerikanische Juden hätten «Angst über Entwicklungen in der demokratischen Partei», beobachtet der Reformrabbiner Ammiel Hirsch laut dem Jewish News Syndicate. «In ihrer Wahrnehmung wird sie zunehmend feindlich gegen Israel und tolerant gegenüber Antizionismus und Antisemitismus in den eigenen Reihen.»

Sanders spricht schon von «Bidens Vietnam»

Bei einer breiteren Wählerschaft könnte es Biden schaden, wenn die Gaza-Demonstrationen allzu lange fortdauern. Der Präsident könne sich einen heissen Protestsommer nicht leisten, warnt auch CNN. Besonders schlimm wäre es, wenn Demos während des demokratischen Parteikonvents von Mitte August in Chicago zu Unruhen ausarten sollten. Der Wählerschaft würden Krawallvideos das Bild einer in sich zerstrittenen Partei vermitteln. Biden stünde als schwacher Anführer da.

Der ebenfalls ergraute Senator Bernie Sanders erinnert sich an die wilden Proteste von 1968 gegen den Vietnamkrieg. Auch damals fand der Parteikongress in Chicago statt, und Strassenkämpfe von Kriegsgegnern mit der Polizei trugen zur späteren Niederlage des Demokraten Hubert Humphrey gegen den Republikaner Richard Nixon bei. Sanders fürchtet, diesmal könnte der Gazakrieg «Bidens Vietnam werden».

Jedenfalls bereiten sich politische Rädelsführer schon auf den Parteikonvent vor. Die «Free Press» besuchte im April eine Konferenz, an der 450 Aktivisten von 75 Linksaussen-Organisationen über Aktionen beim Besuch der Demokraten berieten. Einer der Referenten habe gerufen: «Dies ist Chicago, verdammt – wir müssen sie auf 1968er-Art willkommen heissen.»

Gaza-Krawalle würden nicht nur dem Parteikonvent schaden, sondern auch Bidens Wiederwahlchancen, fürchtet der Abgeordnete Ritchie Torres aus New York. «Donald Trump hat keinen besseren Freund als die Bewegung für ein freies Palästina», sagte Torres der «Free Press». «Es ist schockierend, dass selbst ernannte Demokraten einem amtierenden Präsidenten den Krieg erklären.»