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Feministischer LesestoffStillen in der Versace-Bluse

Leslie Jamisons «Splitter» ragt besonders heraus. Ihre Geschichte ist nicht nur die eines Anfangs, sondern auch die eines Endes.

Manchmal helfen Zahlen ja, etwas ins Verhältnis zu setzen. In jeder Sekunde werden auf der Erde 2,1 Kinder geboren, das heisst: Einmal laut «Einundzwanzig» gesagt, schon haben wieder zwei Menschen das Licht der Welt erblickt; Tag für Tag werden also etwa 181’000 Frauen Mütter, in Tasmanien, Lappland, auf den Galapagosinseln, in Südafrika, Nordamerika, Westeuropa, Ostasien. (Lesen Sie mehr: Interview zum Geburtenrückgang – «Das hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben».)

So gesehen ist eine Geburt ein banales, sehr alltägliches Ereignis, dem überall die gleichen Entwicklungsschritte folgen: Aus einem hilflosen Wesen, das viel getragen und umsorgt werden muss, dafür aber ungeheuer gut riecht, wird ein Kind, das Laufen lernt und lustige Eigenarten entwickelt, wird ein Teenager, der sprunghafte Verhaltensweisen an den Tag legt und nicht mehr so gut riecht, wird ein Erwachsener, der – hat man Glück – sich um einen kümmert, weil aus einer versorgenden Mutter ein vergessliches Grosi geworden ist. So, in etwa, ist der Lauf der Dinge, wenn man sich fortpflanzt.

Die Untiefen und Höhepunkte des Elternseins werden mit dieser nüchternen Feststellung nicht annähernd erfasst, klar, und doch muss die Frage erlaubt sein: Was genau macht Mutterschaft heute eigentlich so ungeheuer spannend, dass man von einem eigenen literarischen Genre sprechen kann, so viele Essays, Romane, autofiktionale Bücher erscheinen in jeder Saison zu dieser Lebensphase?

Ein paar Beispiele allein aus den deutschen Programmen der vergangenen Jahre, eine winzige Auswahl in Anbetracht aller verfügbaren Titel: Anke Stelling beschrieb 2015 in «Bodentiefe Fenster» lustig und boshaft die Sehnsüchte und Abgründe der Prenzlauer-Berg-Mütter, in Mareike Fallwickls Roman «Die Wut, die bleibt» von 2022 stürzt sich eine Mutter nach einem Abendessen mit ihrer Familie kommentarlos vom Balkon, Antonia Baum schreibt in «Stillleben» (2018) über das erste Jahr mit Baby, das die Mutter als eine Art Schockzustand empfindet.

Sie wollen auch als Mütter die Besten sein

Und obwohl die Textart so gut eingeführt ist, stechen in diesem Frühjahr noch einmal drei Bücher literarisch überraschend daraus hervor. Die 32-jährige Slata Roschal, hochgelobt für ihren Debütroman «153 Formen des Nichtseins», lässt in einem soghaften Monolog mit dem Titel «Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten» eine erschöpfte Mutter wehklagen. Sie sitzt in einem Hotelzimmer und überlegt, alles hinter sich zu lassen: «Es ist ja alles gut, mit den Kindern, mit mir, mit mir und dir ja auch, eigentlich, es ist nur ständig dieses Eigentlich, ich spüre, dass da etwas verkehrt ist und das Äussere nicht das Innere ist, mir und den Kindern und mir und dir geht es gut, aber ich frage mich jeden Morgen, warum ich aufstehe.»

Die Lyrikerin und Romanautorin Slata Roschal, 1992 in Sankt Petersburg geboren.

In «Liebesmüh», einem Essay der Kulturgeschichtsprofessorin Christina Wessly, verzweifelt eine Mutter in den ersten Monaten nach der Geburt an den gesellschaftlichen, vor allem aber auch an den eigenen Erwartungen. Sie müsste doch glücklich sein. Ist es aber nicht. Das Kind ist ihr fremd. Wie soll sie es lieben? Der Duktus ist nüchtern, Wessely verwendet eigene Erfahrungen, erzählt dennoch distanziert in der dritten Person: «Dass der Zauber des Anfangs sich ihr als Horror des Endes (ihres alten Lebens) darstellt, ahnt keiner der Freunde.»

Und dann gibt es da die immer wieder umwerfende amerikanische Autorin Leslie Jamison, die, obwohl erst 40 Jahre alt, wegen ihrer scharfsinnigen und genau beobachteten Essays mit Susan Sontag und Joan Didion verglichen worden ist. Einmal schrieb sie über einen Wal, der seit Jahren allein im Pazifik vor sich hinschwimmt, weil seine Töne eine falsche Frequenz haben. Seine Wal-Familie kann ihn nicht hören und deswegen auch nicht orten – eine grossartige Parabel über Einsamkeit.

300 Seiten über sich selbst

Schon immer ging es in Jamisons Texten auch um eigene Erfahrungen. In «Die Klarheit» zum Beispiel sezierte sie die Mechanismen ihrer Alkoholsucht, sie hat als Studentin jahrelang getrunken. In «Splitter» aber, ihrem neuesten Buch, ein «New York Times»-Bestseller und gerade auf Deutsch erschienen, schreibt sie auf 300 Seiten ausschliesslich über sich selbst. Wie und ob das überhaupt zusammengeht, erfolgreiche Schriftstellerin und Professorin für Non-Fiction an der Columbia-University zu sein – und gleichzeitig Mutter. Disclaimer: Es geht eigentlich nicht – oder zumindest nur zum Preis grosser Erschöpfung und Zerrissenheit.

Leslie Jamison: «Splitter». Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Claassen, Berlin 2024. 304 Seiten, ca. 28 Franken.

Und da ist es auch schon wieder zu vernehmen, das Grundrauschen fast aller und somit auch dieser drei Mutterschaftsromane: Die Frauen darin (akademisch gebildet, urban, ambitioniert, in Therapie) wollen beruflich weiter bestehen, aber auch gute Mütter sein, was kein Widerspruch sein muss, aber einer wird, wenn die eigenen Ansprüche so ungeheuer hoch sind. Der Leistungswille, auch in der neuen Rolle als Mutter zu den Besten gehören zu wollen, eint die Frauen in diesen Büchern.

Ihre Tochter sei «eher mein Guru als mein Baby» schreibt Jamison; «normalerweise erlaube ich mir nichts, was meine 24-h-Einsatzfähigkeit trüben könnte» bekennt die namenlose Erzählerin bei Slata Roschal. In «Liebesmüh» sagt die Protagonistin einen Termin mit dem Säugling lieber gleich ab, zu gross ist die Angst, für die längere Anfahrt dahin nicht «an alle Eventualitäten gedacht» zu haben. Das führt am Ende immer zu einer unterschwelligen Enttäuschung (weil man nichts und niemandem wirklich gerecht wird) und einer sichtbaren Überforderung (weil es in Wirklichkeit ja unmöglich ist, allem und jedem gerecht zu werden).

Als Künstlerinnen haben sie noch besondere Fragen: Kann ich noch eine gute Schriftstellerin sein, nun, da ich einen Menschen auf die Welt gebracht habe, der mich braucht, noch viele Jahre brauchen wird? Und ist dieser Zwiespalt es wert, aufgeschrieben zu werden?

Slata Roschal: «Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten». Roman. Claassen, Berlin 2024. 176 Seiten, ca. 29 Franken.

Als die britische Autorin Rachel Cusk in ihrem 2001 auf Englisch erschienenen Buch «Lebenswerk. Über das Mutterwerden» genau über diesen Zwiespalt sehr genau schrieb, bezichtigte man sie der Weinerlichkeit, und auch dessen: eine Rabenmutter zu sein. Sie sei wohl die «meistgehasste Schriftstellerin Englands» konstatierte der «Guardian» damals. Aber Cusk hatte den Ton gesetzt, bekannte sich zur grossen Langeweile, die sie manchmal im Beisein ihrer Kinder befiel, und zum eigenen Ehrgeiz, den sie nicht zurückstellen wollte, Männer machen das ja auch nicht.

Sie formulierte Wahrheiten, die nicht gerne gehört werden, bis heute: Das Leben mit Kindern ist nicht immer schön. Ja, man kann mit seiner Rolle als Mutter hadern, Stichwort «Regretting motherhood». Es ist kein Spass, vollgekotzte Kuscheltiere zu waschen. Und auch keiner, ein brüllendes Baby durch die Nacht zu tragen. Das war, in Cusks literarisierter Form, besonders, schonungslos, neu. Aber das ist es nun, mehr als 20 Jahre und gefühlt 200 entsprechende Bücher später, natürlich nicht mehr.

Mehr als eine weitere Variation

Slata Roschal, Christina Wessely und Leslie Jamison schaffen es aber, nicht nur eine weitere Variation des eingeführten Themas abzuliefern, sondern ihm etwas Eigenes hinzuzufügen. Roschal mit einer atemlosen Sprache, wild mäandernden Gedanken, die zu keinem erlösenden Schluss kommen, aber warum sollten sie auch.

Wessely mit einer fast schmerzhaften Nüchternheit, bei der man aber trotzdem manchmal sehr lachen muss. Wenn die Erzählerin im Rückbildungskurs arglos berichtet, man füttere nun zu, mit selbst gekochtem Brei aus «Biokarotten und Biopastinaken und Biokartoffeln» – und eine Kursteilnehmerin darüber maximal empört ist: Einem Baby einen Löffel in den Mund zu schieben sei Gewalt und gleiche einer Penetration, nur mal so, wie kann man so etwas bitte heute noch machen? Oder wenn die Protagonistin sich über das Lieblingswort urbaner Mütter auslässt, nämlich «artgerecht». Die Kulturhistorikerin Wessely zeigt da, dass Vorstellungen gelungener Mutterschaft auch immer eine Frage des Zeitgeistes sind.

Christina Wessely: «Liebesmühe». Hanser-Verlag, München 2024. 176 Seiten, 30 Franken.

Leslie Jamisons «Splitter» aber ragt besonders heraus. Ihre Geschichte ist nicht nur die eines Anfangs (ein Leben beginnt, das ihrer Tochter), sondern auch die eines Endes (die Beziehung zu dem Vater des Kindes ist zerrüttet). Ihren Studierenden an der Columbia University, erzählt Jamison in «Splitter», hämmere sie immer ein, beim Schreiben so konkret wie möglich zu sein, sie sollten alle «Cocktailparty-Fassungen» von Geschichten verwerfen und stattdessen über das «Heimweh hinter der Wut, die Angst hinter dem Ehrgeiz» schreiben.

Ihr selbst gelingt das mühelos. «Splitter» ist das elegant geschriebene Psychogramm einer Frau, die um ihre Fähigkeiten weiss und sich doch immer wieder infrage stellt. Und die zerrieben wird von dem Wunsch, erfolgreich zu sein, und dem Willen, ihrer Tochter zu genügen.

Einmal verlegt Jamison ein Fotoshooting für eine Zeitschrift in ihr Wohnzimmer. Die Tochter ist erst drei Monate alt, die Grossmutter kümmert sich um das Baby in einer anderen Ecke der Wohnung. Das Fototeam trinkt grüne Smoothies und ist grundentspannt, Jamison gibt vor, es auch zu sein, posiert, lächelt.

Dann hört sie ihre Tochter herzzerreissend schreien. Sie hätte sie längst gestillt haben müssen, hat die Unterbrechung aber nicht gewagt. Das Brüllen ihrer Tochter lässt ihre Brüste anschwellen, Hormone wirken, Milch schiesst heraus und befleckt die «Versacebluse», die ihr «nicht gehört». Das «schockierte Gesicht des Stylisten», schreibt Jamison ziemlich trocken, «war harmlos im Vergleich zum enttäuschten Gesicht meiner Mutter, als ich endlich die Kinderzimmertür öffnete, dreissig Minuten zu spät, um ihr meine heulende Tochter abzunehmen».

Und wo sind überhaupt die Väter?

Das Drama der modernen privilegierten Mutter – könnte es ein besseres Bild dafür geben als dieses milchbesudelte Designerstück? Macht euch mal lockerer, würde man nach der Lektüre dieser drei Bücher den Frauen darin doch gerne hin und wieder zurufen. Stellt euch vor, mit welchen Zumutungen Mütter kämpfen, deren Einkommen ein paar Klassen tiefer liegen. Und Kinder werden grösser; ehe man sich versieht, wollen sie nichts mehr von einem und sind aus dem Haus. Es ist nur eine Phase, wirklich, ihr bekommt euer selbstbestimmtes Leben wieder.

Und wo sind überhaupt die Väter? Die erscheinen in diesen Büchern bestenfalls als willfährige Assistenten. Vielleicht, weil die Mütter auch einfach wollen, dass sie selbst zwar nicht die einzige, aber doch die wichtigste Bezugsperson sind? Man müsste nicht so sehr um sich selbst kreisen wie diese drei Erzählerinnen. Wobei es dann womöglich auch keinen Grund mehr gäbe, so unterhaltsam über Mutterschaft zu schreiben.