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Arm und krank in der Schweiz«Ich zahle hier seit 40 Jahren Steuern und werde im Stich gelassen»

Manchmal muss sie schluchzen, während sie erzählt. 37 Jahre ist Eva M., die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, verheiratet gewesen, beide arbeiteten, sparten, hatten ein gutes Auskommen. Nun ist sie Ende 50, seit 3 Jahren geschieden, hat 2000 Franken Kreditkarten-Schulden, wird gequält von Kreuzschmerzen.

Ihre Zähne wackeln so sehr, dass sie nicht mal weiche Brötchen essen kann, doch für Zahnarztbehandlungen muss ihre Sozialberatung jeweils erst wohlmeinende Stiftungen auftreiben. «Über 40 Jahre habe ich gearbeitet. Ich hätte nie gedacht, dass ich schliesslich mit zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben dastehe.»

1’244’000 Menschen gelten hierzulande als armutsgefährdet, fast jede siebte Person.

Der fiese Spruch «Lieber reich und gesund als arm und krank» passt auch in der Schweiz, wie neue Studien zeigen – bis hin zur verkürzten Lebenserwartung. Im Mai hat das Bundesamt für Statistik einen traurigen Höchststand verkündet: Der Anteil derer, die in der Schweiz von Einkommensarmut betroffen sind, stieg von 6,7 Prozent im Jahr 2014 auf 8,7 Prozent (2021), sprich auf 745’000 Personen. In der gleichen Zeit sank das Einkommen der untersten Einkommensgruppe.

Working Poor machen in der Schweiz über 4 Prozent aller Erwerbstätigen aus.

1’244’000 Menschen gelten hierzulande als armutsgefährdet, fast jede siebte Person; 2021 lag die Armutsgefährdungsgrenze für einen Einpersonenhaushalt bei 30'185 Franken pro Jahr. Wegen des tiefen Einkommens ist auch die Gefahr gross, sozial ausgeschlossen zu sein. Mit am stärksten betroffen sind Personen, die allein oder in Einelternhaushalten mit minderjährigen Kindern leben, sowie Personen ohne nachobligatorische Ausbildung. Knapp 160’000 erwerbstätige Armutsbetroffene gibt es in der Schweiz, sogenannte Working Poor, 2021 machten sie 4,2 Prozent aller Erwerbstätigen aus.

Einkaufen im Caritas-Laden: Die Nachfrage nach dem vergünstigten Angebot für finanziell Angeschlagene wächst stetig (Symbolbild). 

Eva M. liegt nur 60 Franken über der Schwelle zum sozialhilferechtlichen Existenzminimum: in ihrem Fall rund 2100 Franken (es ist wohnortsabhängig) – was sie und auch ihre Sozialberatungsstelle für viel zu niedrig halten. Wegen jener 60 Franken erhält Eva M. überhaupt keine Sozialleistungen; der individuelle Bedarf wird prinzipiell nicht berücksichtigt.

Allein in einer 1½-Zimmer-Wohnung

Einst fuhr das Doppelverdiener-Paar gern in die Ferien, ging essen, gönnte sich mal was. Der Niedergang der Ehe vollzog sich schleichend, der soziale Abstieg danach dagegen rasant. Bei der Scheidung habe ihr Ex-Partner das Geld auf geschickte Weise beiseiteschaffen können. Alimente zahlt er keine, und der Kontakt zur erwachsenen Tochter ist abgebrochen.

Nun sitzt Eva M. mutterseelenallein in einem kleinen Ort, in der winzigen 1½-Zimmer-Wohnung, die sie sich seit Frühling 2022 leisten kann: Seit damals hat sie wieder einen fixen Monatslohn.

Eine Verkäuferin im Supermarkt: Der Job ist stressig, die Kunden oft genervt. 

Neuerdings beträgt er, bei einer 80-Prozent-Anstellung – um die sie lange kämpfen musste –, rund 2500 Franken. Davor jobbte sie im Stundenlohn, lebte in einer WG, zeitweise war sie obdachlos. Heute heisst das Ferienziel von Eva M. nur noch Balkonien.

An Arbeitstagen pendelt sie mit dem Auto zum vier Kilometer entfernten Bahnhof und von dort mit dem Zug in eine nahe gelegene Stadt, wo sie in einem Supermarkt an der Kasse sitzt. Handy, Krankenkasse, Strom, Nebenkosten, Miete, Ratenzahlungen für die Kreditkarten-Schulden, Autoversicherung und Leasingrate – ohne Auto sei sie aufgeschmissen – fressen monatlich etwa 2200 Franken. Was bleibe, reiche kaum fürs Alltägliche und schon gar nicht für Extras.

Für Betroffene «wie ein Wasserfall»

Für Organisationen wie die Winterhilfe Schweiz sind solche Situationen Normalität. Daniel Römer, Geschäftsleiter Winterhilfe Zürich, erzählt, dass es oft «wie ein Wasserfall über die Menschen hereinbricht»: Der Partner geht, ein Dutzend Rechnungen sind offen, Krankenkassenprämie und Zahnarzt werden zum Problem. «Betroffene ziehen sich einen schmerzenden Zahn auch schon mal selbst», sagt er. Dazu kämen die tiefe Scham und mit ihr der Rückzug vom Umfeld.

Trifft es Eltern, dann bemühten sich diese meist mit letzter Kraft, ihr Kind nicht den Belastungen auszusetzen, ihm trotzdem eine schöne Freizeit zu ermöglichen. Doch «der Stresspegel ist hoch, irgendwann bricht das Kartenhaus zusammen, oft auch die Gesundheit», sagt Römer.

«Ich fühle mich am Ende meiner Kräfte.»

Eva M.

Auch für Eva M. liegt der gelegentliche Café-Besuch mit Bekannten nicht drin, mehr arbeiten jedoch auch nicht: «Ich fühle mich jetzt schon am Ende meiner Kräfte» – abgesehen davon gebe man ihr gar nicht mehr Stellenprozente. Die Arbeit an der Kasse bedeute «2000-prozentigen Stress», und körperlich Anspruchsvolleres könne sie erst recht nicht mehr machen.

«Eigentlich sollte ich einen IV-Antrag stellen, meine Knochen sind kaputt, und ich war lange in psychologischer Betreuung.» Der Job tröste zwar auch und bringe Sozialkontakte. Aber im Grunde müsse sie in ihrem Zustand möglichst bald aus dem Arbeitsleben ausscheiden.

«Während Corona wurde manche Regel des Sozialstaats gelockert, davon profitierte die Psyche der Betroffenen.»

Dorian Kessler, Professor für Soziale Arbeit

Dass ein enger Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit besteht, ist international belegt. «Personen mit tiefem Bildungsniveau und geringem Einkommen oder Schulden schneiden bei allen Gesundheitsindikatoren schlechter ab», sagt Dorian Kessler, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Bern, der zur Gesundheit von Armutsbetroffenen forscht. «Umgekehrt verbessert der Ausbau des Sozialstaats nachweislich die physische und mentale Gesundheit von Menschen, die auf finanzielle Hilfen angewiesen sind.»

In einer eigenen Untersuchung hat Kessler nachweisen können, dass sogar das Scheidungsrisiko sinkt, wenn länger Arbeitslosentaggelder gesprochen werden – Stichwort psychische Gesundheit. Scheidungen wiederum sind ein Armutsfaktor, insbesondere für Frauen und Kinder. Grundsätzlich gelte: Tritt der Sozialstaat strenger auf, fordert er mehr von seinen Klientinnen und Klienten, leidet deren Gesundheit auch vermehrt. Sozialhilfeempfangende würden häufig von Stress geplagt, der Depressionen und auch somatische Symptome wie Immunreaktionen auslösen könne, so Kessler. Derzeit forscht man zu Entzündungen als Folge von armutsbedingtem Stress.

«Während Corona wurde manche Regel des Sozialstaats, etwa hinsichtlich der maximalen Bezugsdauer von Arbeitslosentaggeldern, gelockert. Davon profitierte die Psyche der Betroffenen.» Seit die Lockerungen aufgehoben sind, gehe es ihnen wieder schlechter. Ähnlich habe man feststellen müssen, dass jene Mitglieder der Migrationsbevölkerung, die hier gesund, aber nicht begütert ankämen, in der Schweiz oft eine gesundheitliche Verschlechterung erlebten, ihre Mortalität steige. Wie schnell sich ihre Gesundheit in der Schweiz verschlechtert, wird noch analysiert.

«Ein Viertel der Sozialhilfebeziehenden gehen nicht zum Zahnarzt, wenn es nötig wäre», sagt Dorian Kessler, Professor für Soziale Arbeit.

Wie hiesige Armutsbetroffene verzichten Migranten oft auf präventive Untersuchungen bei Zahnarzt oder Gynäkologin. «Seit der Verschärfung des Integrationsgesetzes 2019 zögern die Leute lang, bevor sie Unterstützungen beziehen, weil sie ihre Aufenthaltsbewilligung in Gefahr sehen», erklärt Kessler. Dies schade ihnen. Aber auch bei hierzulande geborenen Kindern in Familien mit knapper Kasse sei die zahnärztliche Betreuung ein grosses Thema. Ein Viertel der Sozialhilfebeziehenden geht laut Kessler nicht zum Zahnarzt, wenn es nötig wäre.

Von der Wiege bis zur Bahre hat der finanzielle Hintergrund grossen Einfluss auf die Gesundheit. Chronische Erkrankungen sind bei Armutsbetroffenen häufiger. Und werden bei armutsbetroffenen Schwangeren etwa die Sozialleistungen gekürzt, hat das Baby ein geringeres Geburtsgewicht, berichtet Kessler. Die schulische Leistung sei bei armutsbetroffenen Kindern im Durchschnitt schlechter, die Chance auf höhere Bildung signifikant geringer, und am Ende reduziere die schlechtere Bildung ihrerseits sowohl die Lebenserwartung als auch die Gesundheit im Alter.

So verzeichneten Frauen und Männer in der Schweiz im Jahr 2014 zwar im Vergleich zu 1990 3 beziehungsweise 5 Jahre mehr Gesamtlebenszeit. Aber der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Personen ohne nachobligatorische Ausbildung und solchen mit Hochschulabschluss betrug 2,5 Jahre für Frauen und 5 für Männer. Das haben jüngst der Schweizer Forscher Stéphane Cullati und der Niederländer Adrien Remund herausgefunden.

Ohne nachobligatorische Bildung lebt man kürzer – und kränker

Betrachtet man zudem spezifisch die Lebenserwartung bei guter Gesundheit, verschärft sich der sozioökonomische Unterschied noch: 2014 lebten Frauen mit niedrigem Bildungsniveau 5 Jahre weniger bei guter Gesundheit als solche mit tertiärer Bildung (1990: 3,3 Jahre), Männer gar 8,8 Jahre weniger (1990: 7,6 Jahre). Der Gewinn an Lebenserwartung bei guter Gesundheit stieg bei Personen mit Hochschulabschluss schneller als die Lebenserwartung insgesamt.

«In die gute Bildung aller zu investieren, kostet, aber es würde einen beachtlichen gesamtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen bringen», resümiert Kessler. Es würde die – auch volkswirtschaftlichen – Belastungen durch Krankheit senken.

Die toxischsten Schulden

Ein weiterer Knackpunkt sind laut Kessler die Schuldenfallen, durch die die Leute oft in eine Negativspirale gerieten. Schon 2022 wuchsen die Anfragen bei den Schuldnerberatungsstellen dramatisch. In den letzten Jahren bewegte sich hierzulande der Anteil jener, die in einem Haushalt mit mindestens einem Zahlungsrückstand in den vergangenen zwölf Monaten lebten, zwischen rund 12 und 16 Prozent. Häufig geht es um nicht bezahlte Steuern oder Krankenkassenprämien.

Zurzeit untersucht ein Pionierprojekt die Zusammenhänge zwischen Verschuldung und Gesundheit in der Schweiz. Mit im Team ist Tristan Coste, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lausanner Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit. Bereits jetzt könne man zwei Ergebnisse festhalten. Erstens: In der Schweiz leiden Verschuldete unter mehr Stress, Unzufriedenheit und Angst als Nichtverschuldete. Zweitens: Zahlungsrückstände sind die «toxischsten Schulden», haben den stärksten negativen Einfluss auf die Gesundheit.

«Rechnungen nicht bezahlen zu können, verursacht erheblichen Stress.» Tristan Coste von der Lausanner Hochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit.

Es sind ungeplante Schulden, die «einen erheblichen Stress verursachen, viel mehr als ein Kredit oder Leasing», so Coste. Rechnungen nicht bezahlen zu können, den Druck der Gläubiger und soziale Stigmatisierung zu spüren, ständig jonglieren zu müssen, führe oft zum Gefühl des Kontrollverlustes, zu Erschöpfung und geringerem Selbstwertgefühl. Ängste und Depressionen nähmen zu. Berichtet werde von Schlafproblemen und mehr gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen wie Rauchen, Trinken, sozialem Rückzug, Nahrungsentzug sowie vom Verzicht auf Arztbesuche.

«Die Schweiz unterstützt alle, Flüchtlinge, Schulen, Sprachschulen. Ich zahle seit 40 Jahren Steuern in der Schweiz und werde im Stich gelassen.»

Eva M.

Einelternfamilien und Armutsbetroffene geraten am häufigsten in Zahlungsrückstand. Zum Gefühl der Ohnmacht geselle sich da nicht selten das der Empörung über die Ungerechtigkeit, so Coste. Auch Eva M. formuliert ihre Wut: «Was mich verrückt macht: Die Schweiz unterstützt alle, Flüchtlinge, Schulen, Sprachschulen. Ich zahle seit 40 Jahren Steuern in der Schweiz und werde im Stich gelassen.»

Die Zahlungsrückstände haben laut Coste auch mit dem speziellen schweizerischen System zu tun: In anderen Ländern werden Steuern und Krankenkassenprämien direkt vom Lohn abgezogen. Zudem mangele es in der Schweiz – hier stimmt Tristan Coste in den Chor etlicher Expertinnen ein –, an juristischen Möglichkeiten, sich aus einer Überschuldung zu befreien. Die Forschungsergebnisse sprächen daher für das revidierte Bundesgesetz über Schuldenbetreibung und Konkurs, das derzeit in der Vernehmlassung ist. Es würde privaten Schuldnerinnen und Schuldnern unter bestimmten Bedingungen «eine zweite Chance für ein Leben ohne Schulden» einräumen.