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Gender-Expertin im Interview «Mädchen können es heute nie richtig machen»

Riittakerttu Kaltiala: «Mädchen lassen sich generell mehr beeinflussen von kulturellen Phänomenen.»

Vor zehn Jahren waren Transsexuelle noch Exoten, heute gibt es ein Transkind in jeder Klasse. Was ist passiert, Frau Kaltiala?

Vor etwa zehn Jahren präsentierten holländische Forscher zwei neue, viel beachtete Studien, das sogenannte Dutch-Protocol. Dort ging es um einen neuen Behandlungsansatz für junge Erwachsene, die sich von Kind an im falschen Körper fühlten. Es war aber eine kleine Gruppe, und die meisten davon waren Jungen, die darauf bestanden, in Wahrheit Mädchen zu sein. Für solche Patienten schlug das Dutch Protocol vor, die Pubertät in einer frühen Phase zu stoppen, sodass sich die Geschlechtsmerkmale nicht entwickeln und diese Menschen später besser gemäss ihrem gefühlten Geschlecht leben können. Dieses neue Modell wurde enthusiastisch begrüsst, von Wissenschaftlern, Menschen, die mit solchen Jugendlichen arbeiteten, von der westlichen Welt insgesamt.

Das erklärt aber noch nicht, warum es plötzlich so viel mehr junge Menschen gibt, die glauben, im falschen Körper geboren zu sein.

Wenn eine Behandlung angeboten wird, dann wird sie auch in Anspruch genommen. Das Angebot bestimmt immer auch die Nachfrage. Der Enthusiasmus über das Thema und die Lobbyarbeit von Aktivisten führte zu einem politischen Druck, die Rechte von Transmenschen mehr in den Fokus zu rücken. Es folgte eine breite mediale Diskussion, und das Thema wurde so prominent, dass es für viele junge Menschen zur Hoffnung wurde.

Aber das Leben als Transmensch ist ja nicht gerade einfach – was erhoffen sich junge Menschen denn davon?

Die kulturelle Diskussion um Transidentitäten weckte bei vielen die Hoffnung, dass das vielleicht die Lösung ist für die mannigfaltigen Probleme, die sich beim Heranwachsen stellen, denn das ist eine schmerzvolle Entwicklungsphase, und die Suche nach der eigenen Identität ist ein wichtiger Teil davon. Auch die medizinische Gemeinschaft liess sich davon beeinflussen, und man begann, die entsprechenden Behandlungen auf breiterer Basis zur Verfügung zu stellen.

Ist es denn nicht richtig, dass man Jugendlichen hilft, die sich im falschen Geschlecht fühlen?

Doch, natürlich, und es gibt auch Adoleszente, die von einer frühen medizinischen Intervention profitieren. Aber man muss trotzdem unterscheiden. Denn der Enthusiasmus mit dem neuen Behandlungsprotokoll ist ausser Kontrolle geraten und wurde zu unkritisch einfach übernommen. Es wäre wichtig gewesen, die Resultate des Dutch-Protocols unter strengen Bedingungen zu verifizieren. Aber das ist nicht passiert.

Sie haben ab 2011 selber mitgeholfen, diese Behandlungen zu etablieren. Wann sind Ihnen Zweifel an der ganzen Entwicklung gekommen?

Uns fiel als Erstes auf, dass die Patienten, die zu uns kamen, nicht schon seit früher Kindheit an Gender-Dysphorie leiden, sondern dass es bei den meisten erst in der Adoleszenz einsetzte, oft auch, nachdem die körperliche Reifung schon weit fortgeschritten war. Die zweite Überraschung war, dass die meisten unserer Patientinnen – im Unterschied zum Dutch Protocol – eine lang bestehende Geschichte psychischer Probleme hatten, unter anderem Autismus, Zwangsstörungen, Essstörungen oder sogar Psychosen. Die nächste Überraschung bestand darin, dass die Behandlung dieser jungen Patienten mit Pubertätsblockern oder Hormonen nicht unbedingt dazu führte, dass es ihnen besser ging, jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie es in der Lehre beschrieben wurde. Im Gegenteil schien es einigen unserer Patientinnen sogar schlechter zu gehen als vorher: Sie isolierten sich, traten aus der Schule aus oder vernachlässigten ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu den Eltern.

Was schliessen Sie daraus?

Wir vermuten heute, dass Gender-Dysphorie nicht die Ursache ihrer Probleme war, sondern sich erst im Rahmen anderer psychischer Probleme zu entwickeln begann. Das verwirrte uns, denn das wissenschaftliche Protokoll lief ja darauf hinaus, dass die medizinische Behandlung der Gender-Dysphorie die anderen Probleme aufheben würde. Ich bin heute überzeugt, dass man mit medizinischer Geschlechtsangleichung zwar die körperlichen Merkmale beeinflussen kann. Aber man sollte nicht erwarten, dass damit auch die psychischen Probleme verschwinden.

Heute sind es fast drei Viertel Mädchen, die ihr Geschlecht wechseln wollen – warum sind Mädchen so viel stärker betroffen?

Mädchen lassen sich generell mehr beeinflussen von kulturellen Phänomenen. Das war auch beim False Memory Syndrom der Fall, das in den Neunzigerjahren viel zu reden gab. (Anm. d. Red.: Damals glaubten sich plötzlich viele erinnern zu können, in der Kindheit sexuelle Übergriffe erlebt zu haben – meist wurden diese Erinnerungen durch spezifische Therapiekonzepte geweckt.)

«Wenn Mädchen heute girly sind, verraten sie den Feminismus. Wenn nicht, kommt neuer Druck.»

Sind junge Frauen denn sozial so viel sensibler?

Sie sind generell anfälliger für Depressionen, Angst und eben auch Stress bezüglich der Frage, wer sie sind. Deshalb suchen sie auch schneller nach Lösungen und Antworten.

Trotzdem hat sich die Situation für Frauen und Mädchen in den letzten Jahren doch eigentlich verbessert.

Nun, es ist offenbar gerade in modernen Gesellschaften sehr schwierig, eine Frau zu sein. Nehmen wir Finnland, ein Land, das als besonders gleichgestellt gilt. Und trotzdem fühlen sich unsere jungen Frauen nicht besser. Denn gerade diese Entwicklung erzeugt auch neuen Druck. Mädchen können es heute nie richtig machen. Wenn sie girly sind, gelten sie als altmodisch, verraten damit den Feminismus und die Gesellschaft als Ganzes. Wenn sie aber nicht feminin oder girly sind, kommt heute sofort ein neuer Druck. Es wird nämlich infrage gestellt, ob sie wirklich Mädchen sind und nicht doch vielleicht ein Junge im falschen Körper. Dieser Grat ist sehr schmal.

Ist die Trans-Identität für Mädchen vielleicht auch ein Fluchtweg vor der Sexualisierung, die in der Pubertät einsetzt?

Ich sehe es eher im Kontext zur Frage, was eine Frau denn nun wirklich sein soll. Aber Sie haben recht, unsere Kultur ist sehr sexualisiert. Nicht nur werden junge Frauen schon sehr früh zum Ziel des omnipräsenten sexualisierten Blicks. Gleichzeitig hat auch der kulturelle Druck zugenommen, sich eben sexuell präsentieren zu müssen oder sexuelle Erlebnisse zu haben. Viele junge Frauen fühlen sich davon überfordert – und das mag auch dazu beitragen, dass sie sich in eine andere Gender-Identität flüchten.

Das Thema betrifft insbesondere auch die Schulen. Viele lassen sich von Trans-Aktivisten beraten. Manche erlauben den Schülern auch die soziale Transition, ohne dass die Eltern informiert werden. Ist das sinnvoll?

Nein, das ist inakzeptabel. Man muss hier allerdings differenzieren. Für Jugendliche ist es natürlich und altersentsprechend, verschiedene Identitäten auszuleben. Dazu kann auch eine soziale Transition gehören, also sich im gewünschten Geschlecht zu präsentieren. Und es spricht nichts dagegen, dass die Schule das dann auch akzeptiert, sie beim gewünschten Namen nennt und sie sein lässt, was sie sind. Das sollte aber immer im Wissen und in Zusammenarbeit mit den Eltern geschehen. Und die Schule sollte das für die Jugendlichen auch nicht zu organisieren beginnen. Das ist nicht ihre Aufgabe.

«Jugendliche fürchten oft, ihre Eltern würden sie abweisen, wenn sie von ihrer neuen Identität wüssten.»

Oft steht ja der Gedanke dahinter, dass man sie schützen will …

Junge Menschen vor dem familiären Umfeld schützen zu wollen, weil sie dort ihre wahre Identität verbergen müssen, ist eine anmassende Vorstellung. Wissen Sie, Jugendliche sehen Dinge oft sehr schwarz-weiss und fürchten, ihre Eltern würden sie abweisen, wenn sie von ihrer neuen Identität wüssten. Das ist aber eher selten der Fall. Meistens wollen Eltern das Beste für ihr Kind, und sie kennen es auch am besten. Problematisch ist auch, wenn wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass es für ein Kind schamvoll ist, wieder zu seinem biologischen Geschlecht zurückzukehren. Hier muss man ein Gate offenlassen.

Welche Rolle spielt soziale Ansteckung?

Nicht bei allen, aber natürlich spielt das bei manchen eine Rolle. In der Adoleszenz geht es genau darum, kulturelle Einflüsse und Identitätsoptionen auszuprobieren, sie sind diesbezüglich auch beeinflussbarer als Erwachsene. Erwachsenen-Identität ist eine kohärente Grösse, die in verschiedenen Kontexten und über Zeit stabil bleibt. Bei den Adoleszenten hingegen kann sich das verändern, je nachdem, zu welcher Gruppe sie gehören. Und es ist dann jeweils authentisch, auch wenn es sich um total unterschiedliche Gruppen handelt. Und es ist auch gar kein Problem, wenn Jugendliche sich so ausprobieren. Schwierig wird es erst, wenn sie medizinische Interventionen verlangen.

Wenn es wirklich so schlimm ist, warum sieht man dann nicht mehr junge Menschen, die ihre Transition bereuen?

Das dürfen wir mit Sicherheit erwarten, vor allem in Ländern wie den USA, wo sehr leichtfertig mit medizinischen Interventionen umgegangen wird.