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Expertin über Erziehung«Dass Eltern ausbrennen, ist eine reale Gefahr»

Entscheide treffen, die das Kind frustrieren oder wütend machen? Manche Eltern scheuen sich davor.

Der Vierjährige meiner Freundin blödelte und lärmte herum, störte unsere Gespräche. Anstatt ihn zurechtzuweisen, kniete sie sich zu ihm, legte den Arm um ihn und fragte, was ihm gerade fehle: «Brauchst du Aufmerksamkeit?» Später erklärte sie, sie richte sich nach der bedürfnis­orientierten Erziehung.

Diese Philosophie ist unter jungen Müttern und Vätern weitverbreitet. An ihr kommt kaum vorbei, wer Erziehungsratgeber liest oder sich in Elternforen vertieft. Mütter beschreiben auf Social Media enthusiastisch, wie sie dank dem Ansatz Wutanfälle ihrer Kinder gemeistert (im Jargon: «begleitet») haben. Auch was die rasch wachsende Ratgeberliteratur zum Thema verspricht, klingt vielversprechend: natürlich und intuitiv erziehen, Kinder ohne Druck aufwachsen lassen.

Seit den Achtzigern ein Begriff

Der Erziehungsstil basiert auf der Grundhaltung, dass hinter allen Handlungen der Kinder Gefühle und Bedürfnisse stehen und die Eltern bemüht sein sollten, diese zu erkennen. Flippt das Kind mal kurz aus und will nicht in die Kita, ist das vielleicht ein Ruf nach Zuwendung, und ein quengelndes Baby braucht möglicherweise körperliche Nähe. Diese Anschauung ist kein neuer Trend, sondern seit den Achtzigern ein Begriff. Besonders im angelsächsischen Raum, hier ist die Rede von «Positive Parenting» oder verwandt dazu «Attachment Parenting».

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Doch in den letzten 15 Jahren hat das pädagogische Konzept im deutschsprachigen Raum neuen Zuspruch gefunden und ist in den letzten fünf Jahren «nochmals exponentiell gewachsen». Das sagt die deutsche Journalistin und Buchautorin Nora Imlau. Sie hat mehr als ein Dutzend Bücher zu Familienthemen geschrieben, davon mehrere zu bedürfnisorientierter Erziehung.

Kind will nicht zur Tramhaltestelle gehen? «Dann trag ich es eben ein Stück weit.»

Sie macht ein Beispiel, was sie darunter versteht: Die Dreijährige soll sich morgens anziehen. Sie sitzt vor dem Kleiderschrank und bockt. Die klassische Reaktion wäre: schimpfen und darauf bestehen, dass sie sich endlich einen Pulli überzieht. Imlau aber sagt: «Vielleicht braucht das Kind Nähe.» Sie würde also die Tochter fragen, ob man sie in den Arm nehmen soll. Oder sie in eine Decke einwickeln, frühstücken und später nochmals zum Kleiderschrank begleiten. «Dem Kind mit Offenheit begegnen – aber dem gleichen Ziel, hier also, dass es sich anzieht», sagt die 40-Jährige.

Geht bei manchen gern vergessen: Nicht nur Kinder haben Bedürfnisse, sondern auch ihre Eltern.

Das hört sich alles wunderbar an – bloss: Wer hat schon jeden Morgen Zeit für ein solches Spezialprozedere? Imlau, Mutter von vier Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren, widerspricht: Man komme rascher ans Ziel, wenn man nicht ständig gegen das Kind ankämpfe. Es gehe darum, im richtigen Moment flexibel zu bleiben. Kind will am Morgen nicht essen? «Ohne Frühstück aus dem Haus und unterwegs ein Brötchen kaufen.» Kind will nicht zur Tramhaltestelle gehen? «Dann trag ich es eben ein Stück weit.»

Hat die Wunschliste der Kleinen Grenzen?

Auch das klingt einleuchtend, und doch fragt man sich, ob diese Ernsthaftigkeit in manchen Situationen nicht etwas überambitioniert ist: Steckt wirklich hinter jedem kindlichen Trotzanfall ein tieferes Bedürfnis? Ja, findet Nora Imlau, und sei es nur, dass Kinder die Präsenz und den Halt ihrer Eltern spüren möchten. «Dann kann ein Nein die richtige Entscheidung sein, wenn das Kind im Supermarkt brüllend nach einem Spielzeugbagger verlangt.»

Und wo hat die Wunschliste der Kleinen ihre Grenzen – gehört es etwa zu bedürfnisorientierter Erziehung, wenn der Vater im Supermarkt den Kindergärtner fragt, was er zum Znacht wünscht? Von aussen könne man solche Dinge nicht beurteilen, findet Imlau. «Vielleicht hat das Kind gerade das Bedürfnis, viel mitzubestimmen. Dann kann es hilfreich sein, ihm anzubieten: Du kannst nicht wählen, ob du in den Kindergarten möchtest oder nicht – aber du darfst beim Abendessen entscheiden.»

«Man darf als Mutter auch mal sagen: ‹Ich habe keine Energie zu diskutieren. Punkt. Schluss.›»

Nora Imlau

Man mag sich wundern, warum diese Anschauung gerade jetzt ein Hoch erlebt – schliesslich haben die heutigen Mütter und Väter, aufgewachsen in den Achtzigern und Neunzigern, die autoritären Zeiten nicht miterlebt. Imlau sagt: «Unsere Eltern wollten vieles anders machen und waren mehrheitlich liebevoll und zugewandt – aber blieben manchmal doch gefangen in alten Mustern, wurden laut und strafend.»

«Ticket in die Hölle der Selbstoptimierung»

Heute gehört es zum Allgemeinwissen, dass frühkindliche Prägungen für das spätere Beziehungsleben eines Menschen entscheidend sind. Mütter und Väter wollen alles dafür tun, ihren Kindern die richtigen Prägungsmuster mitzugeben, viele fühlen sich durch die bedürfnis­orientierte Erziehung angesprochen. Doch der unbestritten wertvolle Ansatz – Kinder und ihre Bedürfnisse respektieren – kann leicht ins Gegenteil verkehren, wenn die Eltern darob ihre eigenen Grenzen vergessen.

In der «Zeit» schrieb eine Autorin und junge Mutter vor einigen Jahren, die ständige Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse ihrer Kinder habe bei ihr beinahe zum Zusammenbruch geführt: «Attachment parenting war für die Mütter in meiner Umgebung nur die Einstiegsdroge, das Ticket in die Hölle der Selbstoptimierung.» Und im «Spiegel» sagte vor kurzem der renommierte deutsche Soziologe Norbert Schneider, die bedürfnisorientierte Erziehung sei «problematisch» und «für Eltern auf Dauer überfordernd», weil ihre Antennen permanent auf die Kinder und deren Ansprüche gerichtet seien.

Angst vor dem Wort «Nein»

Auch Imlau streitet nicht ab, dass ihre Erziehungsphilosophie für manche Mütter und Väter in die Selbstaufopferung führt. «Dass Eltern ausbrennen, ist eine reale Gefahr», sagt sie. «Viele verstehen den Ansatz falsch – sie glauben, sie müssen ihre Bedürfnisse immer zurückstellen.»

Mitschuldig daran sind auf Social Media geteilte Videos von selbst ernannten Erziehungsexpertinnen, die unter dem Schlagwort der bedürfnisorientierten Erziehung eine fragwürdige Verschmelzung zwischen Mutter und Kind propagieren (weshalb die Philosophie zuweilen von antifeministischen und rechtskonservativen Kreisen vereinnahmt wird).

Imlau beobachtet, wie sich verunsicherte Mütter und Väter vor dem Wort «Nein» scheuen und befürchten, die Eltern-Kind-Beziehung zu schädigen, wenn sie dem Nachwuchs einen Wunsch abschlagen. Dabei sei es gerade umgekehrt, sagt die Expertin: «Grenzen können gut und respektvoll sein und die Beziehung stärken.»

Kein Elternteil komme umhin, Entscheide zu treffen, die Kinder frustrieren. «Man darf als Mutter auch mal sagen: ‹Ich habe keine Energie zu diskutieren. Punkt. Schluss.›» Denn das Stichwort bedürfnisorientierte Erziehung sagt es im Grunde bereits: Nicht nur Kinder haben Bedürfnisse, sondern auch ihre Eltern.